Ritus
Bündel, das der nach Atem ringende Pierre trug, ließ Jean die Suppe in der Kehle hinaufsteigen.
»Die Bestie hat Chaulhac ein Weihnachtsgeschenk gemacht«, sagte Antoine kaum berührt und drehte die Überreste des Knaben so, dass sein Vater sie besser sah. Die Bauchdecke war aufgerissen, es dampfte warm und feucht daraus hervor. Die Organe waren angefressen, von der Kehle fehlte ein großes Stück, und das Gesicht des Jungen bestand nur noch aus blutigen Fetzen. Arme und Beine wiesen dagegen keine Bissspuren auf. Offenbar hatte die Bestie den Knaben so gründlich überrascht, dass er keine Gegenwehr mehr leisten konnte.
Jean übergab sich, sein Mahl ergoss sich auf die verschneite Straße.
»Wir kamen zu spät«, berichtete Antoine mit ruhiger Stimme. »Ich habe ihn keine halbe Meile von hier auf offenem Feld gefunden. Um ihn herum lag Reisig, das er wohl gesammelt hatte. Bald darauf kam Pierre, und wir sind zurück ins Dorf, um dich zu holen und ihn seinen Eltern zu bringen.«
»Habt ihr den Verstand verloren?« Jean schaute sich eilends um; die Andeutungen aus dem Gespräch von eben hafteten noch zu gut in seinem Gedächtnis. Noch war niemand auf die drei Chastels aufmerksam geworden. »Was denkt ihr, was die Chaulhaciens sagen, wenn sie uns so auf der Straße sehen? Mit dem toten Jungen?«
»Was wohl? Dass die Bestie zugeschlagen hat.« Antoine blieb immer noch ruhig, die grünen Augen schauten fasziniert auf die Leiche.
Jean packte Pierre am Arm und zerrte ihn um die Ecke ins Dunkel. »Vielleicht. Aber vielleicht werden sie in ihrer Verzweiflung mir die Schuld geben. Da drin sitzen ein paar Idioten und zwei Dragoner Duhamels, denen es gefallen würde, ihrem Capitaine einen mutmaßlichen Mörder vorzuführen.« Er dachte angestrengt nach. »Wir bringen den Jungen wieder dorthin, wo ihr ihn gefunden habt«, entschied er. Es war besser, weit von Chaulhac entfernt zu sein, wenn sie den Knaben fanden. »Und dann folgen wir den Spuren der Bestie. Sie kann noch nicht allzu weit sein.«
Plötzlich gaben Pierres Knie nach; er sank gegen die Mauer und rutschte in den Schnee. Erst jetzt schien ihn der Schock des abscheulichen Anblicks zu treffen. Immer wieder starrte er den zerfleischten Leib des Jungen an – und seine blutigen Handschuhe und den Ledermantel, an dem die miteinander vermischten Körperflüssigkeiten herabliefen und in den reinen Schnee tröpfelten.
Sein Bruder Antoine zeigte nach wie vor keinerlei Regung. »Steh auf, Weiberherz.« Als Pierre nicht reagierte, riss er ihm die Leiche aus den Händen. »Hoch mit dir. Du hast gehört, was Vater sagte.«
Jean half Pierre auf die Beine und rieb ihm das blasse Gesicht mit eiskaltem Schnee ab, damit sein Verstand sich vom Schrecken losriss. »Du schaffst es«, sagte er eindringlich zu ihm. »Reiß dich zusammen.« Seine braunen Augen wanderten zu seinem Jüngeren, den er dabei ertappte, wie er an dem verstümmelten Körper schnupperte.
Antoine lächelte entschuldigend. »Dass ein Mensch kaum anders riecht wie ein geschlachtetes Schwein, hätte ich nicht gedacht«, versuchte er sein Verhalten zu erklären und drehte sich rasch zur Seite. »Seht nach, ob die Luft rein ist.«
Der Wildhüter ging voran und fragte sich beunruhigt, wo das abnorme Interesse seines Sohnes an der Leiche herrührte. Sicher, Antoine legte seit dem Aufenthalt in der Fremde ein seltsames Benehmen an den Tag. Aber das Schnüffeln an Leichen gehörte bislang nicht dazu.
Jean wusste, dass Antoine Kinder mehr mochte, als es erlaubt war. Er stellte den Mädchen nach, manchmal sogar den Jungen, und beobachtete sie heimlich; auch junge Frauen mussten sich seiner Zudringlichkeiten erwehren. Die kleine Marie Denty, ein junges Mädchen aus Septsol, das Jean wegen ihrer freundlichen Art ins Herz geschlossen hatte, fürchtete sich vor Antoine. Sie kam gerne zu Jean, in sein Haus in Besseyre, und schaute ihm beim Schnitzen zu oder begleitete ihn auf seinen Rundgängen durch den Wald. Er genoss das Zusammensein mit dem Mädchen, das ihn als Großvater betrachtete, und freute sich über das Vertrauen, das ihm Maries Eltern entgegenbrachten. Ein Lichtblick. Doch wenn sie Antoine begegneten, versteckte sich das Mädchen stets vor ihm und seinen Hunden.
Was hatte seinen Sohn werden lassen, wie er war? Der Dorfpfarrer hatte Jean auf die Frage nach dem Warum geantwortet, dass es eine Prüfung Gottes sei, aus der er und seine Familie gestärkt hervorgehen würden. Seitdem wollte Jean nichts mehr von
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