Ritus
Jungen davonlief – und in einem schneebekränzten Gebüsch verschwand. Das war nun wirklich das Schlimmste, was einem Hirten passieren konnte: Ein Teil seiner Herde stand vor dem Wald, der andere im Wald, und ein Schaf hatte sich abgesetzt. Camille würde die Nacht im Freien nicht überleben. Der Schneesturm oder hungrige Raubtiere würden ihrem Leben ein Ende bereiten. Er seufzte. So ungern er es tat, es gab keine Wahl, das Tier war wertvoll, und sein Vater würde ihn mit Vorwürfen, Beschimpfungen und Schlägen überhäufen, wenn er es nicht sicher in den Stall brachte.
»Wartet hier«, sagte Chateauneuf zu den übrigen Tieren, als könnten sie seine Worte verstehen, folgte den Spuren, die Camille hinterlassen hatte, und bahnte sich mit dem Stab eine Gasse durchs verschneite Dickicht. Immer wieder hörte er ihr Glöckchen und ein leises Blöken, doch sosehr er sie lockte, sie wollte nicht zurückkehren. Schafe waren keine besonders intelligenten Tiere, aber den Schlag hatte Camille offensichtlich nicht sofort wieder vergessen.
Das Unterholz lichtete sich, und endlich sah der Junge das Schaf durch die Zweige hindurch. Er nahm Anlauf und hechtete, um sich den Hinterlauf des Tiers zu greifen. Seine Hände packten im Fallen zu, gruben sich in die kühle Wolle und hielten Camille fest, die erschrocken blökte und zappelte.
»Hab ich dich«, keuchte Chateauneuf erleichtert, rappelte sich auf und legte sich die Ausreißerin mit einiger Mühe über die Schultern. »Du haust nicht noch einmal ab.«
Wieder knackte es, dieses Mal links neben ihm – und dann vernahm Jean das Knurren eines Wolfs. Wie aus dem Nichts stand er vor Chateauneuf, ein großes, kräftiges Tier, das sich durchaus auf einen Kampf mit einem Mann und erst recht mit einem Jungen einlassen durfte. An seinen Lefzen sickerte dickflüssiges, schleimiges Sekret herab. Tollwut.
Der Wolf und der Junge starrten einander an, bis Chateauneuf nach seinem Stab schielte, der halb aus dem Gebüsch ragte. Er hatte seine einzige Waffe losgelassen, als er nach Camille gesprungen war.
Der Wolf knurrte nun lauter. Die Zähne waren vollkommen entblößt, und er duckte sich zum Sprung.
Chateauneuf stand wie gelähmt, wagte nicht, sich zu bewegen, wusste aber gleichzeitig auch nicht, was er tun sollte, um dem Angriff zu entgehen. Das Schaf roch die Gefahr, es bäumte sich auf, blökte aufgeregt und brachte das Glöckchen zum lauten Klingeln. Damit reizte es den kranken Wolf noch mehr. Er schien sich kurz zu ducken, doch dann sprang er los, das geöffnete Maul zielte auf die Kehle des Jungen.
Schräg neben dem Hirten erklang ein Ohren betäubendes Krachen – eine Muskete hatte sich entladen! Chateauneuf schrie vor Schreck und Überraschung. Er sah, wie das graue Fell des heranfliegenden Wolfes auf Höhe der Brust zuckte, dann spritzte eine Blutfontäne aus dem Rücken.
Aufjaulend prallte der Wolf gegen ihn und warf ihn durch seinen Schwung um, aber der Schuss hatte das Tier auf der Stelle getötet, so dass der Hirte nicht Opfer der Reißzähne wurde. Er hielt Camille weiterhin tapfer fest.
»Alles in Ordnung mit dir, mein Junge?« Eine Gestalt in einem langen Kutschermantel stand neben ihm. Chateauneuf erkannte die Züge hinter dem Kragen und im Schatten des Dreispitzes nicht. Es hätte ebenso gut der Fleisch gewordene, freundliche Geist eines toten Jägers sein können, dem er sein Leben verdankte.
»Danke, Monsieur«, stammelte er rasch und kämpfte sich umständlich aus dem Schnee auf die Beine, ohne das zappelnde Schaf entkommen zu lassen. In seinen Ohren klingelte es noch von dem Dröhnen der Muskete, sein Herz raste.
Der Mann nickte, ging an ihm vorbei und begutachtete das erlegte Tier. Enttäuscht stieß er die Luft aus. »Nur ein tollwütiger Wolf.« Er lud den abgefeuerten Lauf seiner Muskete nach und wandte sich wieder dem Jungen zu. Dieser konnte nun freundliche braune Augen und Teile eines jungen Gesichts erkennen. »Ich hatte gehofft, es sei die Bestie. Ich bin Pierre Chastel. Mein Bruder, mein Vater und ich jagen sie«, erklärte er rasch. »Ich verfolgte eine Spur, als ich dein Schaf hörte.«
»Euch schickte der Himmel! Ich bin Jean, Jean Chateauneuf.« Langsam beruhigte er sich, und er gab sich Mühe, vor seinem Retter nicht wie ein Feigling zu wirken. »Ihr kamt rechtzeitig, Monsieur. Wollt Ihr mitkommen? Es wird bald einen fürchterlichen Schneesturm geben. Ihr solltet besser nicht im Freien sein. Wenn es die Spur der Bestie war, die Ihr
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