Ritus
Stall.
»Monsieur, wollt Ihr Euch den Tod holen?«, meinte Chateauneuf bestürzt und vergaß seine Fragen zur Bestie. »Was ist mit Euch?«
Pierre nahm ein Tuch aus der Tasche und wischte sich die perlenden Schweißtropfen von der Stirn. »Fieber«, gab er zur Antwort und holte seine Trinkflasche unter dem Mantel hervor. Bei diesen Temperaturen musste man sie dicht am Leib tragen, damit das Wasser nicht gefror. »Es sucht mich regelmäßig heim, seitdem mich …« Er brach ab. »Seitdem mich ein Wolf gebissen hat.« Gierig trank er.
Chateauneuf wich vor ihm zurück.
»Nein, Junge, es ist nicht die Tollwut«, beruhigte Pierre ihn. »Es ist Dreck von seinen Zähnen, der sich in meinem Blut festgesetzt hat und es entzündet. Es brennt dann wie Feuer in meinen Adern und peinigt mich mit Hitze, aber es vergeht auch ebenso rasch wieder.« Er schloss die Augen.
Die Schafe wurden unvermittelt unruhig. Sie drängten sich in die hinterste Ecke des Stalls, blökten leise und schauten immer wieder zu Pierre, dessen Körper sich verkrampfte. Er zitterte unkontrolliert, die Hände krallten sich ins Heu.
Furcht stieg in Chateauneuf auf. Man erzählte sich, dass die Bestie ein Loup-Garou war, ein Werwolf, der in seiner menschlichen Form friedlich unter den anderen Bewohnern des Gevaudan lebte. Konnte es … konnte es dieser Jäger sein? Verwandelte er sich gerade, um über ihn herzufallen?
»Heilige Mutter Gottes, steh mir bei!« Der Junge zwang sich, an dem zuckenden Mann vorbeizugehen und die Muskete zu nehmen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie man damit richtig schoss. Es genügte wohl, die Hähne zurückzuziehen, mit dem Lauf zu zielen und abzudrücken.
Chateauneuf stand zwei Schritte vom keuchenden Pierre entfernt, die Mündung war auf dessen Kopf gerichtet. »Monsieur, was ist mit Euch?«, sagte er eindringlich zu ihm. »Ihr macht mir Angst.«
Der Atem des Jägers ging stoßweise; er ächzte und stöhnte tierhaft, es klang kaum noch nach einem Menschen. Chateauneuf hob die schwere Waffe und hielt sich bereit, sein Leben und das seiner Schafe zu verteidigen.
Dann hörte er das Rascheln wieder. Es kam immer noch von der zweiten Ebene des Stalls, aber dieses Mal war es deutlich lauter, und es stammte ganz sicher nicht von einer Maus! »Wir sind nicht allein hier«, sagte er leise. Der junge Hirte schwenkte die Muskete ruckartig zur Empore …
… und blickte geradewegs in die Fratze der Bestie. Sie stand lauernd neben der einfachen Holzleiter und zeigte sich dem Jungen ohne Scheu, wissend, dass sie ihm überlegen war. Sie war groß wie ein Kalb, der Kopf breit und hässlich, und die kurzen Ohren unterstrichen ihre Missgestalt. Die furchtbaren, entblößten Fänge im schwarzen Maul versprachen den Tod.
»Herr im Himmel«, stammelte Chateauneuf. Ein Schuss löste sich aus der Muskete und schlug in einen Holzbalken. »Monsieur Chastel, kommt zu Euch, sonst …« Aber da befand sich der schwere, muskulöse Körper bereits in der Luft und flog auf ihn zu. Der Zusammenprall riss ihm die Muskete aus den Fingern und schleuderte ihn zu Boden.
Er roch den furchtbaren Gestank, versuchte, Widerstand zu leisten und griff in das kurze Fell, sah eine breite Brust mit einem weißen Streifen vor sich. Dann schaute er in ein Paar rot funkelnde, grausame Augen, ehe sich die Zähne in seine Kehle schlugen und sie zerrissen. Ein heißer Schmerz fuhr durch seinen Hals – danach spürte er nichts mehr. Der Schock unterdrückte jegliche Empfindung.
Er lag apathisch auf der Erde, lebte noch einige Augenblicke lang, hörte, wie sich die Bestie schmatzend an seinem Blut labte, das aus der Kehle sprudelte, und vor Freude knurrend seine Bauchdecke mit Klauen und Schnauze aufriss. Der Junge wurde durch das verlangende Graben in seinem Körper hin und her geschüttelt. Das Letzte, was er sah, war das kalkweiße Antlitz von Pierre Chastel, das sich in sein dunkler werdendes Gesichtsfeld schob, und die verkrümmten Finger des Jägers, die sich nach ihm reckten.
Jean Chastel stürmte durch die Tür des Stalls, dessen Umrisse er in dem tobenden Sturm nur mit Mühe ausgemacht hatte. Entsetzt verharrte er auf der Schwelle.
Neben dem verstümmelten Leichnam eines Jungen von vielleicht vierzehn Jahren saßen seine Söhne Antoine und Pierre. Beide waren von oben bis unten mit dem Blut des Toten besudelt, als hätten sie sich darin wie die Schweine gesuhlt. Beide trugen ihre Kleidung schlampig am Leib, Antoines Stiefel lagen neben dem Eingang.
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