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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Sie schauten abwesend und betäubt zu ihm auf und nahmen ihn erst nicht wirklich wahr. Dann hellten sich Pierres Züge auf. »Vater!« Er sprang auf die Füße, schaute an sich herab und blickte zu seinem Bruder. »Was … was haben wir getan?«, raunte er. »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich kam mit dem Jungen herein und …«, seine Augen schweiften zur Zwischendiele des Stalls, »… die Bestie! Sie lauerte dort und …« Er verstummte.
    Antoine lachte auf und streifte sich das blutbesudelte lange Haar aus dem Gesicht. »Ich? Ich soll die Bestie sein? Du träumst, Bruder. Du bist die Bestie und willst mich vor Vater als Schuldigen hinstellen.«
    »Ich kann mich nicht an alles entsinnen, aber du warst nicht hier, als ich den Stall betrat. Die Bestie ist weg, dafür stehst du vor mir«, erwiderte Pierre. »Sage mir, wie das sein kann!«
    Jean nahm die Muskete von seiner Schulter, zog die Hähne zurück und betrachtete seine Söhne. »Ich habe unter dem Vordach der Hütte keine Spuren der Bestie gefunden. Was immer das hier angerichtet hat, es ist noch im Stall«, sagte er verunsichert.
    Antoine zeigte auf die Empore. »Vielleicht verbirgt es sich vor uns?« Er erklomm die Leiter, wühlte im Stroh und Heu herum und fand nichts. Genauso wie es Pierre im Stillen vermutet hatte.
    Dem Wildhüter kam ein schrecklicher Verdacht. Die Bestie hatte seine Söhne damals verwundet. Hatte er ihre Verletzungen zu spät mit glühender Klinge ausgebrannt? Trugen sie den Keim des Bösen in sich?
    Er erinnerte sich an das seltsame Verhalten Antoines in Chaulhac, an seine Faszination, als er den Leichnam des Jungen beschnüffelt hatte. Und Pierres Schock – war er nicht seltsam spät eingetreten, so als habe er damit gewartet, bis er den Vater damit narren konnte? Der Verdacht traf Jean mit kalter Wucht: Die Spuren vor dem Stall waren eindeutig. Es gab keine anderen Schuldigen. Und seine Söhne hatten schon einmal getötet. Mindestens einmal. Seine Hände begannen zu zittern.
    »Was immer das hier angerichtet hat«, wiederholte er rau, »es ist noch hier drin.« Seine Augen wanderten über die entsetzten Gesichter Pierres und Antoines. »Was hat die Bestie aus euch gemacht?«, rief er verzweifelt. »Ihre Rache ist furchtbarer, als ich angenommen hatte.« Die Finger spannten sich um seine Waffe. Er wusste nicht, was er tun sollte – noch mehr Bestien waren für das Gevaudan zu viel.
    Antoine sprang vom Heuboden herab und stellte sich neben ihn. Er ahnte, was in seinem Vater vorging. »Du darfst nicht zulassen, dass die Bestie über uns triumphiert, Vater. Gönne ihr den Sieg nicht, indem du uns tötest! Wir suchen … wir suchen ein Gegenmittel, das uns von dem Fluch befreit.« Er schlüpfte in die Stiefel. »Ich kenne einen Henker, der sich auf allerlei Zauberkunst versteht. Er wird uns sagen können, was gegen den Loup-Garou in uns hilft.« Er warf sich auf die Knie und schaute seinem Vater beschwörend in die Augen. »Ich flehe dich an, Vater! Wir sind deine Söhne, dein Fleisch und Blut. Wir können nichts dafür, dass wir zu Bestien geworden sind. Hilf uns, den Fluch zu brechen, der über uns gekommen ist. Ich will nicht sterben!«
    Jean Chastel ließ seinem Kummer freien Lauf, warf sich Antoine in die Arme, Pierre gesellte sich vor Verzweiflung weinend hinzu. Zu dritt knieten sie im allmählich gefrierenden Blut des Hirtenjungen und suchten Halt und Trost beieinander.
    Schließlich erhob sich der Wildhüter, zog auch seine Söhne hoch und sah sie nacheinander fest an. »Du hast Recht, Antoine. Wir werden ein Gegenmittel finden – und wir werden die Bestie weiterjagen.« Und ich werde von nun an auf jeden eurer Schritte achten, fügte er in Gedanken hinzu, damit ihr das Leid der Menschen nicht weiter vergrößert. Und wenn ich euch deswegen einsperren muss. Er schaute voller Kummer und Wut auf die zerfleischte Leiche des Jungen und versprach der Bestie dafür mannigfaches Leid und einen qualvollen Tod. »Verschwinden wir, bevor der Sturm nachlässt und sie nach ihm und den Schafen suchen.«
    Antoine und Pierre richteten ihre Kleidung, rafften ihre Sachen an sich und traten nach draußen in das zornige Weiß. Schon nach wenigen Schritten verschwanden ihre Konturen im rauschenden Gemisch aus Wind und Flocken.
    Jean drehte sich noch einmal um, als er in der Tür stand, und betrachtete das, was seine Söhne hinterlassen hatten. Er nahm die Lampe vom Haken, zerbrach das Glas und warf sie ins Heu. Sofort zuckten die Flammen empor

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