Ritus
Schulterwunde enorme Schmerzen bereitete. Das Silber hatte ihr Fleisch verbrannt und verhinderte, dass sich die Verletzung regenerierte. Die blutige Klinge auf ihrer Haut zischte, kochte ihren Lebenssaft.
»Wie heißt du?«
»Tina«, wimmerte sie. »Bitte, ich …«
»Wer war der andere, und was wolltet ihr in meinem Haus?« Rasch schaute er sich um, lauschte, sog den Wind ein. Sie waren allein, und das war verdammt gut so. Derzeit sah es nach einer Vergewaltigung aus, niemand hätte bei diesem Anblick etwas anderes angenommen und wäre ruhig stehen geblieben. Die möglichen Retter wiederum hätten ihm unnötige Probleme bereitet. »Also, Tina?«
Sie lag vollkommen still. »Wir sollten nachsehen, was stehen geblieben ist und ob sich wer blicken lässt, wenn die Bullen weg sind«, flüsterte sie und begann zu zittern. Ihre Lippen liefen blau an. Ohne das schützende Fell und ohne Kleidung fror sie wie ein gewöhnlicher Mensch. »Er … Er war mein Freund. Jemand hat ihn angerufen und ihn losgeschickt, ich habe ihn nur begleitet.«
»Jemand?«
»Ich weiß es nicht!«
»Wer hat die Bomben gelegt? Upuaut?«
Ihre Augen wurden groß. »Was? Wer? Nein, keine Ahnung, den Namen erwähnte er nicht.« Sie schrie leise auf, als die Klinge einen Millimeter tief in ihr Fleisch schnitt. »Der Franzose! Es war der Franzose!«, rief sie wimmernd.
»Wie lautet sein Name? Chassart?«
Wieder war sie überrascht. »Nein. Faux … nein, Fauve oder so ähnlich.«
»Was ist er? Ein Wolf? Oder etwas anderes? Und wo finde ich ihn?«
»Beim heiligen Fenris, ich schwöre, dass ich keine Ahnung habe!« Sie weinte in ihrer Angst und in ihrer Hilflosigkeit Stein erweichend. »Wir haben doch nichts gemacht, wir sind bloß zu dieser Scheißruine und …«
Er seufzte. »Bist du als Lykantrophin geboren worden?«
»Ja.« Tina klapperte mit den Zähnen und brachte kaum mehr ein verständliches Wort hervor. »Ich kann nichts dafür …«
Er nahm den Dolch weg. »Dann bedank dich bei deinen Eltern. Ich …«
Tinas Furcht verschwand wie weggewischt. Sie hatte bemerkt, dass es Unsinn war, an Erics Mitleid zu appellieren und das hilflose kleine Mädchen zu spielen. Stattdessen griff sie an. Tina bäumte sich so gut sie konnte nach oben, riss den Mund auf, lange, spitze Zähne schnappten nach seiner Kehle. Gleichzeitig versuchte sie, seine Arme zu packen.
Eric hatte viel früher mit einer Attacke gerechnet. Sein Dolch drang zwischen den Rippen hindurch und zerschnitt das Herz. Tina kam nicht mehr dazu, einen Schrei auszustoßen, sie schnaufte nur noch einmal. Ihr Atem umschloss ihn als weiße Wolke, ihr Blick – wild und ungläubig zugleich – brach. Der Körper wurde schlaff, die Arme fielen kraftlos in den Schnee.
Der Geruch ihres warmen Atems blieb in seiner Nase. Sie hatte vor Kurzem einen Döner gegessen, eine Zigarette geraucht und versucht, den Geschmack mit einem Kaugummi zu überlagern. Zimt.
Für einen Moment tat es Eric Leid, dass er ihr Leben genommen hatte. Aber Tina war alles andere als ein netter Teenager gewesen, der sich im Wald verirrt hatte. Sie gehörte zu ihnen, sie hätte Menschen gefährdet und die Seuche weiterverbreitet.
Frischer Schnee fiel aus den dunkelgrauen Wolken über München, eine Schar Krähen flog über die grünen Tannen hinweg und krächzte laut, als beschwerten sie sich darüber, dass er die junge Frau getötet hatte.
Er betrachtete sie noch einmal. Momente wie diese waren es, die er hasste. Momente, in denen er gezwungen war zu töten. Kreaturen wie Tina zu töten. »Fauve«, sagte er leise und stand auf, zog das Messer aus ihrer Brust und wischte es mit Schnee sauber. Immerhin hatte er einen Ansatzpunkt für seine Ermittlungen.
Eric trug die Leiche zu seinem Auto, sammelte ihre Kleidung ein und fuhr zur Ruine zurück. Er schleppte Tina die Stufen hinauf, durch die Küche – und blieb stehen.
Eine ätzende Wolke schlug ihm aus dem geheimen Keller entgegen, er hustete und fluchte gleichzeitig: Es war noch jemand hier gewesen, der die Ablenkung durch Tina genutzt hatte.
Eric ließ den Leichnam auf die Fliesen fallen und stieg die Treppe hinab, bis er vor der Tresortür stand. Er hatte den Fehler begangen, sie nicht zu schließen. »Scheiße«, murmelte er.
Vorsichtig betrat er das Labor und betätigte den Schalter. Das Deckenlicht sprang nicht mehr an, es würde keinen Strom geben, bevor er nicht das Notaggregat in Betrieb nahm. Der Strahl der Taschenlampe beleuchtete ein chaotisches
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