Ritus
seine Hand fallen und leckte sie ab. Der bekannte Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus, das dazugehörige Gefühl in seinem Kopf folgte unmittelbar.
Dann schaufelte er Schnee in den Topf und sog mehrmals hintereinander die Luft ein. Klar und kalt schoss sie ihm durch die Nase in die Lungen und reizte ihn zum Husten. Einigermaßen beruhigt kehrte er zurück.
Lena saß am Tisch, den sie neben den Kamin geschoben hatte, und brütete bereits über den Ausdrucken, den Fotos, den handschriftlichen Aufzeichnungen und Skizzen. Ein Laptop stand aufgeklappt neben ihr, war aber nicht eingeschaltet. »Er muss erst Zimmertemperatur annehmen«, erklärte sie, ohne ihre Augen zu heben. »Sonst könnte es einen Kurzschluss geben, wegen des Kondenswassers auf den empfindlichen Teilen.«
Eric kümmerte sich um die Teezubereitung. »Schon etwas entdeckt?«, rief er laut, während er die Kanne und die Tassen vorbereitete. Er legte seinen Mantel ab. In der Küche wurde es wie im Wohnzimmer wohlig warm. Er dachte mit Bedauern daran, dass er nicht wie sonst nackt herumlaufen konnte. Gut, er konnte schon, aber mit Rücksicht auf seine Besucherin wahrte er die Gepflogenheiten der breiten Massen.
»Ich weiß nicht, wonach ich suchen soll«, kam es laut zurück. »Irgendetwas im Hintergrund, ein Gebäude, eine Struktur, die nicht in die Landschaft passt? Was könnten wir fotografiert haben, was die russische Regierung nicht veröffentlicht wissen möchte? Ein Haus? Ein Schild? Ein vorbeiziehendes Flugzeug im Hintergrund?«
»Suchen Sie weiter.«
Eric rief Anatol an und nahm das Medaillon, das er dem Verfolger abgenommen hatte, aus seiner Hosentasche. »Anatol, ich beschreibe Ihnen etwas, und Sie finden so rasch wie möglich heraus, was es damit auf sich hat.« Er hielt das Schmuckstück vor seine Augen. »Gold, massiv, so wie es aussieht. Es ist geprägt, ich erkenne auf der einen Seite einen Fluss, der einem Berg entspringt und in dem eine …«, er kniff die Augen konzentriert zusammen, »… eine Flöte? Ja, eine Flöte schwimmt. Eine Panflöte. So eine, wie sie Indios in der Fußgängerzone spielen.« Er wendete das Amulett. »Auf der anderen Seite ist ein König auf einem Thron zu sehen, die Schriftzeichen sehen nach Altgriechisch aus, sind aber schwer zu entziffern. Und hinter seinem Thron steht ein gigantischer Wolf.« Er drehte das Handy um, fotografierte beide Seiten mit der eingebauten Kamera und sandte die Datei an Anatol. »Finden Sie heraus, um was es sich dabei handelt, bitte.«
Dann brühte er den Tee auf und balancierte die Tassen und die Kanne auf einem kleinen Tablett nach draußen.
Lena hatte es inzwischen gewagt, den Laptop einzuschalten und sichtete eine Wolfaufnahme nach der anderen, betrachtete den Hintergrund, zoomte vor und zurück. Dankbar nahm sie die Tasse entgegen und wärmte sich die Finger.
»Ich … ich muss verrückt geworfen sein. Ein Kollege stirbt, ich habe keine Ahnung weshalb, aber statt zur Polizei zu gehen, erschwere ich deren Ermittlungen. Ich fahre mit einem völlig fremden Mann, der mir zwar das Leben gerettet hat, aber offenbar an Werwölfe glaubt, in eine einsame Hütte.« Sie nippte vorsichtig am Tee. »Das ist ein sehr, sehr merkwürdiger Tag, Eric. Aber immerhin«, setze sie mit einem schiefen Lächeln hinzu, »ist der Tee gut.« Sie blinzelte durch den heißen Dampf.
Eric setzte sich ihr gegenüber. »Glauben Sie mir, er ist mindestens so ungewöhnlich für mich wie für Sie.«
»Wieso glaube ich Ihnen das nicht?« Lena schaute sich demonstrativ um. »Sie fahren ein teures Auto, haben ein Gewehr auf der Rückbank, kennen sich in Petersburg verdammt gut aus und schrecken nicht davor zurück, sich mit der Polizei anzulegen. Sind Sie so etwas wie ein Superheld?« Ihre dunkelgrünen Augen fingen seinen Blick. »Anders gefragt: Sind Sie ein Guter oder ein Böser?«
»Ich bin Eric.« Würde er noch zwei Sekunden länger in ihr Gesicht schauen, müsste er sie küssen. »Zeigen Sie mir die Aufzeichnungen. Vielleicht entdecke ich etwas.« Es war seine Art der Flucht vor dem aufkeimenden Gefühl der Zuneigung, das über den triebhaften Wunsch nach Sex hinausging. Er nahm sich die Mappe mit den Fotos und studierte die Abzüge stumm, merkte aber, dass Lena ihn beobachtete.
»Wie kommt man darauf, an Werwölfe zu glauben?«, fragte sie unvermittelt. »Haben Sie zu viele Horrorfilme gesehen?«
»In jeder Legende verbirgt sich eine Wahrheit.«
»Dann halten Sie auch Vampire für
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