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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Glück.
     
    Lena erwachte stöhnend. So gut es der Sicherheitsgurt und ihre Jacken zuließen, betastete sie ihren Rücken. Als sie die zitternde Hand zurückzog, klebte daran Blut.
    »Es wird eine Narbe geben, aber er hat Sie nicht infiziert«, beruhigte Eric sie, ohne den Kopf zu drehen. »Lykantrophie überträgt sich nur durch ihren Biss.«
    Lena schlug die Hände vors Gesicht und weinte leise.
    Eric reichte ihr den Schwamm, mit dem er normalerweise die beschlagene Innenscheibe säuberte. »Hier. Mehr habe ich leider nicht anzubieten.«
    Sie schniefte, nahm ihn und tupfte sich damit Wange und Augen ab. »Scheiße«, sagte sie mit belegter Stimme. »Scheiße, Scheiße.« Die Stirn an die Seitenscheibe gelehnt, starrte sie hinaus auf die vorbeirauschenden Lichter Sankt Petersburgs.
    Eric ließ ihr die Zeit, sich zu sammeln und das, was ihr soeben zugestoßen war, zumindest ansatzweise zu verarbeiten. Er war froh, dass sie offensichtlich nicht ihren Verstand verloren hatte, wie er es in der Vergangenheit des Öfteren bei Menschen erlebt hatte, die eine Begegnung mit einem Wandelwesen überlebten. Entgegen aller Behauptungen war die Psyche sehr viel zerbrechlicher als der menschliche Körper.
    »Ich habe meinen Vater und meine Mutter durch die Wandelwesen verloren«, brach er das Schweigen. »Mein Vater hat mich ausgebildet, mir ihre Stärken und Schwächen gezeigt und mich mit auf die Jagd genommen.«
    Lena stöhnte. »Eigentlich wäre es mir lieber, wenn Sie wahnsinnig wären.« Sie senkte den Kopf und betrachtete ihre Hände, an denen ihr eigenes und das Blut Nadolnys klebten. »Aber Sie sind es nicht.« Sie klappte die Sonnenblende nach unten und begutachtete ihr Gesicht. Nadolnys Handabdrücke waren deutlich zu erkennen, die Stellen unterhalb der Augen schwollen an. »Wie lange machen Sie das schon?«
    »Seit zwölf Jahren. Es gibt ziemlich viele von ihnen«, antwortete er, bog ab und lenkte den Cayenne durch den Verkehr zurück zum Kastelischen Anwesen. »Sie werden nicht gleich wieder Ihr Pfefferspray auspacken?«
    Sie lächelte müde. »Keine Sorge. Es ist leer.« Sie betrachtete ihn von der Seite. »Wie finden Sie diese …?«
    »Wandelwesen oder Werwesen. Lykantrophie ist nur der Sammelbegriff für sie und bezeichnet ihre Fertigkeit, zwischen Mensch- und Tiergestalt zu wechseln. Damit meine ich nicht die armen Spinner, die sich für einen Wolf halten und sich so benehmen. Das ist was Psychologisches. Sie haben gesehen, um was es geht.« Eric wusste, dass sie ihm jetzt glaubte. Was blieb ihr auch anderes übrig?
    »Sie wollen sagen, dass es nicht nur Werwölfe gibt, sondern auch …«
    »Alle möglichen Formen, genau. Es hängt von ihrem Ursprung ab, ihrer Kultur. Wie ich schon sagte, in jeder Legende steckt ein wahrer Kern, ganz gleich, ob man Ihnen von Wer-Jaguaren in Argentinien, Wer-Schakalen in Ägypten oder Wer-Tigern in Indien berichtet.« Er schaute sie ernst an. »Glauben Sie den Legenden.«
    »Sie kommen ordentlich herum, nehme ich an«, sagte sie mit einem Hauch zurückkehrenden Humors. »Woher wissen Sie, wo sich ein Lykantroph befindet?« Das Thema schien sie mehr und mehr gefangen zu nehmen.
    »Sie begehen Fehler. Wandelwesen begehen früher oder später immer Fehler. Bis auf …«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Da wäre die eigene Dummheit. Manche werden in ihrer Tiergestalt bei den Streifzügen gesehen, und heraus kommen dabei solche Geschichten wie in England vor ein paar Monaten: Frau sieht schwarzen Panter in der Londoner U-Bahn. Erinnern Sie sich an die Schlagzeilen? Ein Tier in artfremder Umgebung ist immer ein gutes Zeichen für einen Lykantrophen. Und dann gibt es da noch ihre Gier nach Menschenfleisch, der sie nachgeben müssen. Bestialische Morde sind Indizien, auch wenn manche der Wesen genügend Verstand besitzen, ihre Taten zu tarnen.«
    »Nadolny …« Lena zog die Augenbrauen zusammen. »Das, was von Nadolny übrig geblieben ist, hatte kaum eine Spur von Verstand.«
    »Er gehörte noch nicht lange zu ihnen. Sie lernen erst mit der Zeit, die Wildheit des Tiers zu kontrollieren, außer man reizt sie.« Er fuhr in die Einfahrt des Anwesens, stieg aus und half ihr aus dem Cayenne. »Ich sehe mir Ihren Kratzer auf dem Rücken an, danach duschen Sie erst einmal und schlafen. Morgen werden Sie mehr lernen.« Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er mit der gleichen autoritären Art wie sein Vater gesprochen hatte.
    Lena fühlte sich zu ermattet, um zu protestieren. Außerdem war ihr

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