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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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verschwunden.
    Im Lauf der nächsten zwei Wochen unternahm Katherine die Fahrt hinaus nach Riven Rock jeden Tag und kümmerte sich dort um die vielfältigen großen und kleinen Dinge, die sich während ihrer Abwesenheit angesammelt hatten, und jeden Tag um drei Uhr versteckte sie sich im Gebüsch auf dem kleinen Hügel westlich des Hauses und sah von dort aus zu, wie Stanley von O’Kane und Mart zum Luftschnappen und für ein wenig Gymnastik auf die Sonnenveranda geführt wurde. Irgendwie fühlte sie sich dabei lächerlich – eine Frau in ihrem Alter und in ihrer Position kroch in den Sträuchern herum wie eine Vogelnärrin oder Spannerin – und auch ein wenig deprimiert, denn das Traurige an ihrer Lage wurde ihr jedesmal verdeutlicht, wenn sich eine Wespe auf ihrem Hut niederließ oder die Stimmen der Gärtner von weiter unten zu ihr drangen. Was tat sie da? Was war los mit ihr? Andere Frauen gingen am Arm ihrer Männer ins Theater, plauderten beim Frühstück mit ihnen, spürten sie körperlich neben sich im Bett, hatten Kinder und Enkel und Häuser voller Wärme, sie dagegen konnte sich ihrem Stanley nur durch ein Paar geschliffener Gläser mit sechsfacher Vergrößerung nähern.
    Aber da war er, wanderte auf der Sonnenveranda umher wie ein Flüchtling, hinkte mit dem rechten Bein und zog die Schultern ein wie unter einer schweren Last. Sie stellte die Schärfe am Feldstecher nach und war wieder einmal betroffen, wie alt Stanley aussah – nächstes Jahr wurde er vierzig, doch hätte man ihn keinen Tag jünger als fünfzig geschätzt. Und wie dünn er war. Sicherlich ließ sich das zum Teil auf die lange Zeit der Zwangsernährung und den faden Brei zurückführen, den man ihm eingeflößt hatte, aber jetzt, da er wieder selbst aß, hätte sie erwartet, daß er etwas Gewicht zulegte. Natürlich war es aus dieser Entfernung schwer zu sagen, aber es sah so aus, als hätte er ein bißchen Farbe bekommen, und das war immerhin etwas. Und der Blick in seinen Augen – er erinnerte sie so sehr an den alten Stanley, den Stanley, in den sie sich verliebt hatte, der Mann mit der unwiderstehlichen Erscheinung, kraftvoll und leidenschaftlich, und dabei auch scheu und verletzlich.
    Da – dieser Ausdruck – so hatte sie ihn im Gedächtnis, genau so. Er sagte gerade etwas zu O’Kane, fuchtelte aufgeregt mit den Armen, führte mit konzentriertem Blick Argumente ins Feld, brachte seine Meinung vor. Schlagartig erwachte er zum Leben, so als wäre in ihm ein verborgener Schlüssel umgedreht worden. So war er in jenem ersten Jahr gewesen, als er sie geradezu umgehauen hatte mit seiner Energie, und in jenem Jahr hatte sie jeden Abend »Stanley Robert McCormick« vor sich hin geflüstert, immer wieder, wie ein Gebet, bis sie in den dunklen Abgrund des Schlafes fiel.
    Er war damals in Beverly aufgetaucht wie eine Erscheinung, ein geflügelter Gott, vom Himmel gesandt, um den Zwillingsmächten von Langeweile und Butler Ames entgegenzutreten, der ihr schon seit einem ganzen Monat so zielstrebig nachstellte, als würde er seinen Erbanspruch verlieren, falls er nicht bis zum 15. September eine Ehefrau fand. Sie hatten viel Spaß im Urlaub, und sie fühlte sich wohl dort, weil es die Antithese zu ihrem Leben am Institut und ihrer Abschlußarbeit war (»Herzmuskelschwäche bei Reptilien«), zu der sie nur allzubald wieder zurückkehren würde, aber es war auch alles etwas oberflächlich und nach der ersten Woche sterbenslangweilig. Jeder Tag war eine Lithographie des vergangenen. Morgens wurde Tennis gespielt, nachmittags geschwommen und gerudert, und abends gab es Picknick, Croquet, Scharaden, Tanz und Musik, und Butler Ames versuchte die ganze Zeit über witzig zu sein, zitierte Abend für Abend dieselben öden Zeilen von Swinburne oder Oscar, und Pamela Huff und Betty Johnston, Ambler und Patricia Tretonne grinsten dazu, als hätten sie sie noch nie gehört. Es war erholsam, das schon, aber anderswo brodelte die Welt, eine Welt von Kinderarbeit, entrechteten Frauen, Mietskasernen und Fabriken, und kein Mensch an diesem Urlaubsort – von den übergewichtigen Gästen bis zu den Frauen, die die Böden scheuerten, und den Männern an den Hummerkochtöpfen – hatte jemals von Ida Tarbell, Jacob A. Riis oder Frank Norris gehört. Außer Stanley. Und als er über den sonnenbeschienenen Rasen ging, mit großen, weit ausgreifenden Schritten, Lederhelm und Schutzbrille in der hellen, schlenkernden Hand, da war sie bereit für ihn.
    Sie waren

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