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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Weihnachten, nicht mehr in Riven Rock gewesen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, ein enorm schlechtes, und es gab Nächte, in denen sie in anonymen Hotelzimmern in Washington, Cleveland oder San Francisco aufwachte und nicht sicher war, in welcher Stadt sie sich gerade befand, und sie hätte schwören können, Stanleys Stimme zu hören, die nach ihr rief. Sie neigte nicht dazu, Pflichten zu vernachlässigen. Und solange Stanley lebte, war er ihre Pflicht, ihre allererste Pflicht, in guten wie in schlechten Zeiten.
    Dabei hatte sich sein Zustand in diesem Jahr, 1913, gebessert, sehr sogar, was aus den Berichten, die Hamilton für die Vormunde und das Gericht alljährlich aufsetzte, nicht annähernd klar hervorging. Diese Berichte waren immer so trocken – Es gab kurze Phasen geistiger Klarheit, gefolgt von deliranter Erregung, danach stumpfte der Patient ab –, gerade ein oder zwei Zeilen zur Beschreibung eines ganzen Jahres im Leben eines Menschen. Aber sie schrieb Stanley einmal pro Woche, in steter Treue, ganz egal, wo sie war oder unter wie großem Zeitdruck sie stand, und er hatte ihr auch etliche Male zurückschreiben können – was ihr allein schon mehr sagte als jeder sterile Bericht. Natürlich waren seine Schreibkünste noch ein wenig verquer, denn er verzierte alle Konsonanten mit kleinen Schnörkeln und allen möglichen barocken Dekorationen, und aus den Rundungen der Vokale schienen kleine Gesichter zu spähen, und seine Themen – das Wetter, der Garten, das Essen – waren wesentlich beschränkter, als sie es erhofft hatte, doch immerhin schrieb er. Er nahm die Mahlzeiten jetzt am Tisch sitzend ein, und obwohl er weiterhin nur mit dem Löffel essen durfte, legte er doch einen gewissen Sinn für Manieren an den Tag, außerdem interessierte er sich für die Zeitung, aus der er manchmal sogar seinen Pflegern laut vorlas. Besonders der Untergang der Titanic im vergangenen Jahr hatte seine Phantasie stark angeregt, und noch mehrere Monate nach dem Unglück schien er kein anderes Thema zu kennen als das tragische Ende von John Jacob Astor, nachdem dieser seine junge Gattin so edelmütig in dem letzten verbliebenen Rettungsboot untergebracht hatte.
    Gleich am Tag ihrer Ankunft fuhr sie im Wagen nach Riven Rock, sobald sie gefrühstückt hatte. Diesmal war sie allein, da ihre Mutter erst in zwei Wochen nachkommen konnte (»Ich habe hier noch Hunderte von Dingen zu erledigen, Katherine, um Himmels willen, ich muß noch die Geschenke für deinen Onkel kaufen, für die Dienstboten und für alle Moores und für Mrs. Belknap ja auch noch, und ich weiß einfach nicht, wie ich das alles schaffen soll...«). Sie versuchte ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, während sich der Wagen unter dem Baldachin der überhängenden Äste auf der langen geschwungenen Einfahrt dem Haus näherte, sie dachte an Stanley, den armen süßen unverstandenen Stanley, und sie wußte, daß immer noch keinerlei Chance bestand, ihn zu sehen, nicht eine Minute lang – das wäre zu beunruhigend für ihn, sagte Hamilton. Viel zu beunruhigend. Nach Stanleys quasikatastrophaler Flucht waren sämtliche Frauen aus dem Haus verbannt worden, sogar die Dienstmädchen, ersetzt von einem wechselnden Team von Männern aus dem Ort, darunter zwei Chinesen, die Sam Wah als Hilfskoch beziehungsweise als Spüljungen angeheuert hatte. Dr. Hamilton empfand es als zu gefährlich, überhaupt Frauen im Haus zu haben, sowohl für sie als auch für Stanley, selbst wenn er nie eine zu Gesicht bekäme. Allein das Wissen, daß sie da waren, könne ihn durchdrehen lassen, das leiseste Echo einer weiblichen Stimme oder nur ein Geruch – ja, Menschen, die an seelischen Störungen litten, hätten oft außergewöhnliche Sinneswahrnehmungen, so ausgeprägt wie die mancher Tiere. Jedenfalls behauptete das der Doktor.
    Auf jeden Fall betrat Katherine diese frauenlose Festung um neun Uhr morgens, an einem Tag so sanft wie eine Hand an der Wange, einem dritten Dezember, dabei hätte es ebensogut Juni sein können. An der Tür empfing sie Torkelson, der neue Butler, ein scheinbar völlig mittelmäßiger Mann, nichtssagend und unansehnlich wie eine lebende Fußmatte, und dann war sie in der Bibliothek mit Mr. O’Kane, betrat diesen Raum als erste Frau, seit sie ihn vor einem Jahr verlassen hatte. Dr. Hamilton, so versprach er ihr, werde in Kürze von seinem Haus in der Hot Springs Road kommen – man habe sie nicht so früh erwartet.
    »So, Mr. O’Kane«, sagte

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