Riven Rock
Gesellschaft begab. Stanley aber war anders. Stanley maßte sich nichts an, bedrängte sie nicht, war nicht aggressiv. Und er konnte zuhören, er hörte lieber ihr als sich selbst zu, und je mehr sie redeten, desto mehr spürte sie den Sog der Erinnerung, der sie unwiderstehlich in einen bewegten Brunnen der Nostalgie hinabriß, wo sie das Gesicht ihres Vaters vor sich sah, den Michigansee im Dämmerlicht, die Prairie Avenue in tiefen Schneeverwehungen, auf der gerade ein schweres graues Kutschpferd in der Deichsel zusammenbrach, während ihr Vater sie rasch vorbeiführte.
Bald saßen sie und Stanley dicht beieinander und für sich, die Breite des Tisches zwischen ihnen und der übrigen Gruppe, die sich – da sie von Reminiszenzen an die Tanzakademie LaBonte, an Bumpy Swift und George Pullman ausgeschlossen waren – der allgemeinen Konversation zuwandte und sie auf ein anderes Thema brachte. »Und wie spielen die Boston Beaneaters in dieser Saison?« hörte sie einmal Morris fragen, und darauf Butlers Antwort: »Ach was, beim Baseball lob ich mir immer noch die American League!« Und dann, wie aus dem Nichts, Stanleys Frage: »Haben Sie Unionismus und Sozialismus von Eugene Debs gelesen?«, und da wich für sie der Rest des Abends in eine verborgene Spalte im weiten Kontinuum der Zeit zurück. Als sie wieder aufsah, spielte keine Kapelle mehr, der Ballsaal war leer, und die anderen lagen alle in ihren Betten.
So warb Stanley um sie – mit Sozialismus, Unionismus, Fortschritts- und Reformpolitik, statt mit Blumen und Geplauder und bedeutsamem Augenzwinkern. Gleich am Morgen suchte er sie auf, noch ehe sie Gelegenheit zum Frühstücken hatte, und legte mit einer Tirade gegen ererbten Reichtum und gierige Kapitalisten wie seinen Vater los, die die Produktionsmittel an sich rissen und den Werktätigen ihre Arbeitskraft raubten, er sprach von Saint-Simon, Fourier, Owen und Marx, als kennte er sie persönlich, und ja, er war in Tränen ausgebrochen über Wie die andere Hälfte lebt des Photographen Jacob A. Riis, und er hoffte die neugegründete International Harvester Company eines Tages in ein voll genossenschaftlich geführtes Unternehmen umzuwandeln, wie er es mit seiner Ranch in New Mexico schon getan hatte. Sie spielten Tennis, gingen schwimmen, er lud sie zu einer Kahnpartie ein, und dabei debattierten sie die ganze Zeit über aktuelle Probleme, bis sie das Gefühl hatte, von innen her zu leuchten.
Am dritten Tag mußte sie unbedingt ihrer Mutter telegraphieren und von ihm erzählen, von Stanley Robert McCormick, Erbe des McCormick-Vermögens, groß und sportlich und aus Chicago, ein Mann, der keine Scheu vor den intellektuellen Seiten des Lebens besaß, ein rechtschaffener, auf rührende Art schüchterner Mann, der soviel wert war wie sämtliche Butler Ames dieser Welt zusammen. Und ihre Mutter, die ihr schon seit Monaten damit in den Ohren lag, was sie denn tun wolle, wenn sie im nächsten Jahr ihren Abschluß am M.I.T. hätte, mit neunundzwanzig schon recht alt fürs Heiraten, dabei sei sie doch die allerletzte Hoffnung der Dexter-Linie, kabelte innerhalb einer Stunde zurück: MACH MICH GLÜCKLICH, KATHERINE!
Doch all das war lange her, eine wahre Eiszeit war das her, und jetzt konnte sie ihren gutaussehenden Gatten bestenfalls durch den Feldstecher beobachten, wie ein Biologe beim Studium der Lebensweise eines seltenen Wildtiers – und natürlich dafür sorgen, daß er jeden Komfort und alle mit Geld bezahlbaren materiellen Dinge bekam, um seine Pein zu lindern, und die bestmögliche Behandlung, um seine Heilung herbeizuführen. Und auch wenn sie Weihnachten nicht mit ihm zusammen feiern konnte, war sie doch entschlossen, in allen Geschäften und Katalogen zu wühlen, um ihn unter einer Lawine von Geschenken zu begraben, so daß sein Arzt, indem er sie ihm einzeln überreichte, jedesmal wie einen Segensspruch verkünden könnte: Das hier ist von Katherine.
Und genau das tat sie an dem Vormittag nach der Ankunft ihrer Mutter, sie wies gerade O’Kane und LaSource an, für sie die turmhoch gestapelten, in Folie gewickelten Geschenkpakete hineinzutragen und in Stanleys Zimmerflucht unter dem Christbaum anzuordnen, als plötzlich Julius aus dem Nichts auftauchte und durch die offene Tür auf den Rücksitz des Wagens krabbelte. Zunächst dachte sie daran, ihn zu verscheuchen – es war zwei Tage vor Weihnachten, und sie wollte möglichst bald ins Hotel zurück, um sich bei einem Glas Eierlikör mit ihrer
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