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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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dann kostete er vom Roquefort und vom Edamer, dazu Obst und Gebäck, und als er von seinem café noir zufällig aufsah, erhaschte er den Blick einer jungen Frau, die auf der anderen Seite des Raumes inmitten einer Gruppe fröhlicher junger Leute saß.
    Eigentlich erhaschte nicht er ihren Blick, nicht direkt – eher schon sie den seinen. Sie starrte ihn an, und weder zuckte sie zusammen noch sah sie beiseite, als er aufblickte und ihr Starren bemerkte. Normalerweise hätte er sich nicht viel daraus gemacht – höchstens wäre er erschrocken und hätte während der nächsten halben Stunde so getan, als studierte er das Muster seiner Nagelbetten –, aber er fühlte sich so gut wie noch nie, der Wein prickelte in seinen Adern, eroberte seine Augen und belebte sein Lächeln, und es war etwas merkwürdig Vertrautes an ihr, fast so, als würde er sie kennen... Und nach allem, was er an jenem Tag erlebt hatte, konnte er sich einfach nicht beherrschen. Sobald einer der Männer aus ihrer Gruppe vom Tisch aufstand und auf die Toilette ging, erhob sich Stanley unauffällig und folgte ihm. Die Spiegel vermeidend, wartete er ab, bis der Mann aus der Kabine trat und sich am Becken die Hände wusch, dann räusperte er sich, nannte seinen Namen und fragte, ob er wohl der jungen Dame in Blau vorgestellt werden könne.
    Der Mann hieß Morris Johnston. Er war von durchschnittlicher Größe und Statur, er zog sich durchschnittlich an, auch Haar- und Augenfarbe waren in höchstem Maße durchschnittlich – das heißt, er war weder dicklich noch dünn, kein Angeber, aber auch kein rückständiger Tropf, und farblich überwog der Eindruck von Mausbraun. »Ah, Sie meinen Katherine?« antwortete er, keineswegs überrascht.
    »Ja«, brachte Stanley hervor und zupfte an seinem Kragen, der sich plötzlich wie eine Garrotte um seinen Hals anfühlte. »Katherine«, probierte er den Namen aus. »Ich glaube, ich kenne sie. Wie heißt sie mit Familiennamen?«
    Morris ließ ein Lächeln aufblitzen. »Dexter«, sagte er. »Aber Sie sind nicht aus Boston, oder?«
    In diesem Moment kam alles wieder, von Monsieur Labontes gezwirbelten Schnurrbartspitzen bis zum Geruch nach Bohnerwachs auf den polierten Dielen der Tanzschule und dem Gefühl jenes zwölfjährigen Mädchens in seinen Armen, nichts als Kragenecken und Knochen und vorsichtig schlurfende Füße, dieses Mädchen namens Katherine Dexter, das nun reif und erwachsen war und im Raum nebenan saß, ganz in Blau gekleidet. »Nein«, sagte er und erinnerte sich an ihre feuchten Handflächen in jenem überheizten Saal, an die Nähe ihrer Körper, den Klang ihres Lachens an einem bestimmten Wintertag, als die Temperatur jäh gefallen war und der Schnee sanft herabschwebte wie die gerupften Federn eines seltenen himmlischen Geschöpfs, »ich kenne sie noch aus Chicago.«
    Stanley war scheu, immer noch der verstohlene Junge, der sich gern verkroch, aber es war etwas an Katherine, das ihn dazu brachte, sich öffnen zu wollen, sein Innerstes nach außen zu kehren wie einen Handschuh oder eine Socke, nichts zu verbergen, alles zu erzählen, seine Ängste, Träume, Hoffnungen, Vorlieben, Theorien und fixen Ideen. Sie tauschten ihre Reminiszenzen an Chicago aus, und als sie das zweimal getan hatten, sich an alles doppelt erinnert und die Liste ihrer gemeinsamen Bekannten und Erlebnisse erschöpft hatten, da sah er den Glanz ihrer Augen schwächer werden – sie war müde? gelangweilt? hatte genug von Monsieur Labonte und der Prairie Avenue und Bumpy Swift? –, und er fühlte eine gräßliche Spannung in sich entstehen. Er mußte sie bei sich halten, er mußte einfach, selbst wenn das bedeutete, ihr Handgelenk zu berühren, das so lässig in seiner nackten Vollkommenheit auf dem Tisch vor ihm lag, es zu berühren und zu packen und sie an sich zu ziehen, obwohl ihm klar war, daß er das nie tun könnte, selbst wenn er noch tausend Jahre lang Abend für Abend neben ihr sitzen würde. Doch falls sie ihn verließe, falls sie mit Morris Johnston tanzte, gähnte und die Hand vor den Mund hielte und höflich um Entschuldigung bäte, weil sie sich den Abend zurückziehen oder auch nur auf die Toilette gehen wollte, würde er sterben. Sein Mund war voller Asche, sein Herz raste, und gerade als sie sich zu diesem anderen Burschen hinüberbeugte, diesem Butler Ames, ein Raunen auf den Lippen, spürte er einen Kloß in der Kehle und hörte sich gleich darauf heraussprudeln: »Haben Sie schon Unionismus und Sozialismus

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