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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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los«, sagte er. »Mach auf. Lies es.«
    Sie entfaltete das Papier und hielt es ins Licht, stand am Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht neben ihm, der Regen prasselte gegen die Scheiben, die Dienstboten lauerten in den Korridoren. Es war ein Testament. Ein paar Zeilen, datiert und signiert, sonst nichts.
    Ich, Stanley Robert McCormick, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, vermache hiermit im Falle meines Todes mein gesamtes Vermögen einschließlich der Kapitalanlagen und Immobilien in toto meiner Frau, Katherine Dexter McCormick.
    Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Es war so unerwartet, so seltsam – und auch so morbid. Hatte er gestern etwa das geschrieben? Hatte er das vor ihr zu verbergen versucht? »Stanley«, murmelte sie, und ihr versagte die Stimme, »das hättest du nicht tun müssen – wir haben doch noch soviel Zeit zum Nachdenken über diese Dinge, so viele Jahre...«
    Er strahlte, bleckte sämtliche Zähne, und seine Augen leuchteten wie Hundert-Watt-Birnen. »Es sollte eine Überraschung sein«, sagte er. »Das habe ich – gestern abend – es war gar nichts Geschäftliches, nicht alles, weißt du, weil... weil ich, na ja, ich habe an dich gedacht...«
    Und nun mußte sie nichts mehr sagen, und er ebensowenig. Sie schlang die Arme um ihn, drückte sich an ihn, ein Fleisch, sie hob ihm das Gesicht entgegen und fand seine Lippen. Und so standen sie da, in genau dieser Pose, beim ersten Kuß ihres Ehelebens und alle beide durchflutet von jeder erdenklichen sentimentalen Empfindung, als Katherines Mutter in einer Wolke aus Federn, Parfum und flotter, gebieterischer Energie zur Tür hereinrauschte, dicht gefolgt von Stanleys Mutter. »Nun seht euch das an«, krähte Josephine, »seht euch nur die zwei Turteltäubchen an!«

Teil III
    Die Ära Kempf

1
    Wohltuender Stupor
    O’Kane lag hingelümmelt auf einem kreisförmigen Rasenstück zwischen den Lorbeerbäumen, zusammen mit Mart und Mr. McCormick, und alle drei waren sie schweißgebadet und atmeten schwer. Mr. McCormick hatte seinen Spaziergang an diesem Vormittag besonders rasant angepackt und ihnen eine Verfolgungsjagd von einem Ende des Grundstücks zum anderen geliefert, heftig arbeitende Ellenbogen und geblähte Nasenlöcher, den Blick auf eine unsichtbare Verlockung in der Ferne geheftet. Zuerst ging es bergauf, einen unmenschlich steilen Weg den höchsten Hügel mit dem schwindelerregenden Ausblick über den Channel hinauf, dann drehten sie um und rasten wieder hinunter, allen voran Mr. McCormick in wahnwitzigem Tempo, eine Finte hierhin, eine dorthin, bis sie das Haus dreimal umrundet und endlich hier zwischen den Lorbeerbäumchen Ruhe gefunden hatten. Mart lag rücklings auf einer Steinbank beim Brunnen, reglos bis auf sein angestrengtes Atmen, Mr. McCormick hatte sich auf dem Rasen ausgestreckt und starrte in das Granulat des Himmels, das Jackett als Kissen unter dem Kopf zusammengeknüllt. Es war vollkommen still, kein Windhauch, kein Laut. Die Sonne erdrückte sie fast mit ihrer Last.
    »Schade wegen Hoch«, bemerkte O’Kane nach einer Weile, nur um etwas zu sagen.
    Mart gab einen Knurrlaut von sich. Mr. McCormick starrte zum Himmel empor.
    »Den hab ich gemocht, weißt du, Mart? Er war nicht so erregbar wie Hamilton oder Brush – wenn das das richtige Wort dafür ist. Und Mr. McCormick hat ihn ja am Ende auch richtig gern gehabt, nicht wahr, Mr. McCormick?«
    O’Kane hatte eigentlich keine Antwort erwartet – er und Mart redeten nun ihr halbes Leben lang an ihrem Arbeitgeber und Wohltäter vorbei –, aber Mr. McCormick überraschte ihn. Er drehte den Kopf und sah O’Kane mit prüfendem Blick an. »Dr. Hoch?« echote er mit schriller, bebender Stimme. »W-was ist denn mit ihm?«
    »Sie erinnern sich doch, Mr. McCormick – das war doch erst gestern, gestern früh. Dr. Brush hat es uns erzählt.«
    Pause. Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über Mr. McCormicks Gesicht. Nach einer Weile sagte er: »Nein, ich erinnere mich nicht.«
    »Sicher doch. Sie waren sehr unglücklich deswegen – und da haben Sie mein volles Verständnis. Es hat uns alle bedrückt.«
    Dr. Brush war vor einem Monat aus Europa zurückgekehrt, im August, gerade rechtzeitig, um Hoch abzulösen, dessen Zustand sich rapide verschlechtert hatte. Falls die Härten der Westfront bei Brush überhaupt Spuren hinterlassen hatten, dann war er noch fetter und leutseliger geworden als früher, und am Vortag hatte er Mr. McCormick mit einem Stapel von Platitüden und ganzen

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