Riven Rock
mir. Mit mir, Stanley.«
»Ja«, sagte er und schaute mit einem starren, wachsamen Auge zu ihr auf, »ja – ich, ich weiß, und ich will ja auch, ja, aber sieh mal, wenn du mich nur noch eine Minute hier, äh... weiterschreiben läßt, dann kann ich... also...«
Was sollte sie sagen? Sie war schockiert und verletzt. Dies war ihre Hochzeitsnacht, der Augenblick, auf den sie sich ihr ganzes Leben gefreut hatte, nicht wahr? Was stimmte nicht? Lag es an ihr? Wies er sie zurück? Hatte er es sich anders überlegt? Sie wußte, daß er schüchtern war, gewiß, und das war ein Zug an ihm, der ihn liebenswert machte, dies aber übertraf jede ihr vorstellbare Bescheidenheit und Zurückhaltung – er hatte sich nicht einmal umgezogen. Es war, als hätte er es auch nicht vor, als wäre diese Nacht von allen Nächten ihres kommenden Lebens für ihn nicht etwas Besonderes, als hätte sie nicht all die unermeßlich langsam dahintröpfelnden Stunden im Nebenzimmer auf ihn gewartet. Und dann dämmerte es ihr, begann sie allmählich zu begreifen, während sie seine angespannten Schultern massierte und er den Blick von ihr abwandte und seinen Brief zudeckte: Er hatte Angst vor ihr. Angst vor der eigenen Frau. Angst vor dem Bett, dem Ehebett, der komplizierten Mechanik der Liebe. Er litt, das konnte sie sehen, er litt an seiner Liebe zu ihr, und das ließ sie erweichen.
»Na gut«, sagte sie schließlich, beugte sich vor, um ihn auf den Scheitel zu küssen, und überlegte, was sie sagen, wie sie es ausdrücken, wie weit sie gehen sollte. »Obwohl ich nicht recht verstehe, wie du in einem solchen Moment ans Geschäft und an deine Korrespondenz denken kannst.«
Er sah sie nicht an. Sie spürte, wie er sich unter ihrer auf seiner Schulter ruhenden Hand anspannte.
»Na gut«, sagte sie und seufzte, »wenn es sein muß, wenn dein Geschäft dir soviel bedeutet, aber versprich mir, daß du in einer Minute ins Bett kommst, ja? Nur eine Minute, gut?« Sie beugte das Gesicht zu seinem hinunter, das Licht der Lampe war grell und hart, er aber wandte den Kopf ab und gab das abgerungene Versprechen der Schreibtischplatte.
»Ja«, sagte er, »versprochen.«
Am Morgen wechselte sie selbst die Bettwäsche, noch bevor das Zimmermädchen ihre Nase ins Zimmer stecken konnte – es gab keine blutigen Laken hochzuhalten, keine Fahne der Jungfräulichkeit, nicht einmal den sauberen, gesunden Abdruck zweier ineinandergekuschelter Leiber. Sie knüllte die Wäsche zusammen und stopfte sie in den Kamin über eine Lage Kiefern- und Eichenholz, wo sie in einem schnellen, wilden Feuer aufging, ehe sie zu einem Haufen Asche zerfiel. Stanley war an seinem Schreibtisch eingeschlafen, und er schlief noch immer, als sie um acht Uhr in einem schweren, düsteren Licht erwachte, das sich wie ein dunkler Fleck über den See ausbreitete, bis der Himmel wieder so schwarz war wie kurz vor dem Morgengrauen, als sie erstmals aufgewacht war. Gegen neun begann es zu regnen.
Katherine lag ausgestreckt auf der nackten Matratze und starrte zwischen den Bettvorhängen auf den Regen hinaus, der gegen die Fensterscheiben peitschte, und wagte nicht, sich zu rühren. Sie hatte Hunger, unglaublichen Hunger – am Tag zuvor hatte sie wegen der Aufregung kaum etwas gegessen –, aber sie fürchtete sich ebenso davor, nach Essen zu klingeln, weil es dann jeder gewußt hätte, Dienstboten waren ja berüchtigt für ihre Schwatzhaftigkeit, allen voran die Frankoschweizer, die sich im Schloß bewegten, als wären sie von einer Kaiserin ausgeliehen, und denen nichts entging. Aber was sollte sie tun? Bald würde ihre Mutter eintreffen, alle möglichen Fragen in den Augen, und dann würde Stanleys Mutter folgen, gerade rechtzeitig für einen leichten Imbiß, bevor die ganze pompöse Entourage sich in den Zug nach Paris und dort ins Hotel Elysée Palace begab.
Endlich, als die Uhr im Nebenzimmer mit leisem, wiederholtem Schnarren zehn schlug, ging sie auf Zehenspitzen zur Tür und spähte hinein. Stanley schlief noch, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, einen Korb voll zerknülltem Papier neben sich. Er schnarchte mit einem rasselnden Pfeifen, das die um ihn verstreuten Blätter zum Leben erweckte, und dabei wurde ihr bewußt, daß sie keinen Mann mehr schnarchen gehört hatte, seit ihr Vater gestorben war – er pflegte nach dem Essen in der Bibliothek stets einzunicken, die Zeitung rutschte ihm vom Schoß, und neben ihm wurde eine Tasse heiße Malzmilch kalt. Sie fand die Szene
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