Riven Rock
auf seltsame Art rührend, wie Stanley auf der Platte des Sekretärs schnarchte, die Wange an den Tisch geschmiegt, während seine Lippen flatterten und seine langen Wimpern sich wie die einer Puppe ineinander verzahnten, aber sie mußte ihn dennoch aufwecken – die Dienstboten durften ihn auf keinen Fall so sehen.
Sie dachte daran, ihn zu rütteln, und in gedehntem Flüsterton beim Namen zu nennen – »Stanley, Stanley, wach auf!« –, wie sie es vermutlich noch zehntausendmal am Morgen tun würde, aber als sie dann im Zimmer war und sich tatsächlich seiner hingestreckten, schlafenden Gestalt näherte, brachte sie es nicht übers Herz. Und warum nicht? Weil es ihm peinlich sein würde, er wäre beschämt und bei einer Lüge ertappt, und sie wollte seinen Gesichtsausdruck dabei nicht sehen, den Schmerz und die Verwirrung in seinen Augen, seine Verlegenheit – sie wollte es nicht sein, die ihn an das nutzlose Negligé und das leere Bett erinnerte. Deshalb wählte sie den einfachen Ausweg: sie kehrte zur Tür zurück und warf sie dreimal hintereinander krachend zu, ehe sie aus dem Schlafzimmer in die Halle huschte und zum Frühstück nach unten ging.
Dort wurde so manche Stirn gerunzelt. Das Personal schlich herum wie in einem Bestattungsinstitut, Madame Fleury erstickte fast, so sehr hielt sie den Atem an, und ihre Miene troff vor Anteilnahme. Und wo, so fragte man sich, war denn der Herr des Hauses, der Patriarch und Meister der Entjungferung? Der schlafe noch. Man habe ihn nicht zu stören. Natürlich bot diese Enthüllung Grund für weiteres Stirnrunzeln. Katherine ignorierte es. Sie ließ sich das Frühstück bringen, sah in den Regen hinaus und aß, einen kleinen Happen nach dem anderen.
Stanley tauchte gegen Mittag auf und wirkte durcheinander. Er hatte gebadet und trug einen anthrazitfarbenen Anzug mit steifem, förmlichem Kragen samt Krawatte. Katherine, die sich bereits für die Eisenbahnfahrt nach Paris umgezogen hatte, saß am Fenster mit einem Buch, das zu lesen sie vorgab. »Ach so«, sagte Stanley und steckte den Kopf zur Tür herein wie ein Kind, das einen Schabernack spielt, »hier, äh, bist du also. Ich, nun...« Dann war er im Zimmer, groß und würdevoll, die Schultern zurückgeworfen, und bei sich hatte er etwas – ein sauber gefaltetes Stück Papier –, das ständig von einer Hand in die andere wechselte. Er wippte auf den Fersen. Schmatzte. Öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien ihn aber nicht ganz um die gewünschten Worte formen zu können.
»Guten Morgen«, sagte Katherine. »Oder sollte ich lieber sagen: ›Guten Tag‹?«
Darauf wußte er offenbar keine Antwort. Er stand einfach nur da, gleich an der Tür, und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen.
»Hast du gut geschlafen?« Sie wollte nicht spitz klingen, wollte ihn nicht provozieren, aber es ließ sich nicht gänzlich verhindern. Sie war wütend. Das war sie. Und gedemütigt.
»Ich – also... ich, es tut mir leid, ich, du weißt ja – die Arbeit... und dann, ehe ich mich’s versah...« Dabei warf er in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände in die Luft, und das gefaltete Papier machte die Bewegung mit.
Katherine spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. Er stand da wie ein Holzklotz, wie ein Bauerntrottel, mit herabbaumelnden Händen, an seinem Kinn prangte ein Klecks Rasierschaum. »Und?« fragte sie. »Bekomme ich keinen Kuß?« Und sie wollte noch hinzufügen: »Wenigstens das«, hielt sich aber zurück.
Auf einmal setzte er sich in Bewegung, schritt durch den großen, höhlenartigen steinernen Saal mit den verblichenen Wandteppichen und der Galerie von langen schmalen Fenstern, die auf das graue Nichts des Genfer Sees hinausgingen, doch er wirkte nicht zärtlich, überhaupt nicht – er wirkte entschlossen, pflichtbewußt, beinahe martialisch. Er beugte sich ungelenk zu ihr hinab, als sie ihm das Kinn entgegenhob und die Lippen vorschob, und ebenso ungelenk küßte er sie – auf die Wange, das war alles. Sie erhob sich aus dem Sessel, um ihn in die Arme zu nehmen, er aber trat einen Schritt zurück, jeder Zentimeter seines Leibes zuckte und zappelte, und was kam jetzt? Er hielt ihr das Stück Papier hin, einen ordentlich gefalteten Bogen Briefpapier mit dem eingeprägten Monogramm der McCormicks in der Ecke.
»Katherine«, begann er, »ich wollte – gestern abend, ich... hier.« Er nötigte ihr das Blatt auf, sein Lächeln war schmal und verkrampft, aber er weidete sich an ihrem Anblick. »Na
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