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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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weniger exotisch fand als O’Kane. Die Pfeife in den zusammengebissenen Zähnen, rutschte er mit dem Hinterteil herum und ergriff sein Affenbuch mit beiden Händen, wobei er zu O’Kane aufblickte, als wäre er überrascht, daß er immer noch da war. »Das war doch ganz offensichtlich«, murmelte er, und seine Augen taten einen müden, etwas mechanischen Satz. Der Vortrag war vorbei. Er wirkte schläfrig und zog sich innerlich bereits zurück, dachte jetzt nur noch an seinen Pyjama, seine Zahnbürste und seine Affen. »Nicht daß die Kleine auch nur über ein Hundertstel von Katherines Charme undKultiviertheit verfügt«, sagte er, seufzte und kämpfte gegen ein Gähnen an, »aber äußerlich ähnelt sie ihr doch zweifellos...«
    Während der letzten Viertelstunde hatte O’Kane nichts lieber gewollt, als dieser elenden kleinen Kabinenschachtel zu entfliehen, seine Ohren brannten heiß, der Vorgeschmack von Whiskey kitzelte seine Zunge und weitete ihm die Kehle, jetzt aber blieb er, leicht verwirrt. »Sie wollen also sagen, daß er von allen Frauen hier im Zug, die er, äh, hätte attackieren können – sich absichtlich sie ausgesucht hat? In der Raserei seines Anfalls?«
    Die Augen des Arztes hinter den Brillengläsern waren ausdruckslos. Er gähnte nochmals und zog bei einem abrupten Schlag der Gleise die Schultern hoch. »Ja. Das stimmt. Er hätte jede Frau angreifen können – oder sich unter die Räder werfen, wie gesagt... doch er hat sich sie ausgesucht.«
    »Aber warum? Warum würde er eine Frau angreifen, die ihn an seine eigene erinnert?«
    Die Frage schwebte einen Moment im Raum, und das Rattern des Zuges füllte die Stille; zuinnerst kannte O’Kane die Antwort bereits.
    Hamilton seufzte. Er saß auf der Kante seines Betts, Qualm verströmend und mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen. »Psychopathia sexualis« , sagte er.
    O’Kane war nicht ganz sicher, ihn richtig verstanden zu haben, bei dem priesterhaft herausgeraunten Latein und der unbändigen Stille danach, die jeden Spalt und jeden Riß der Schienen so sehr verstärkte, daß seine Ohren davon dröhnten. »Tut mir leid«, sagte er. »Was haben Sie gesagt?«
    Doch anstatt es zu wiederholen, legte Hamilton die Pfeife beiseite und beugte sich vor, um einen Koffer unter dem Bett hervorzuziehen. Er ließ den Deckel aufschnappen, und O’Kane sah, daß er voller Bücher war. Der Doktor wühlte kurz darin und fischte einen dicken Band hervor, dessen Ledereinband die Farbe von getrocknetem Blut hatte. »Krafft-Ebing«, knurrte er und warf das Buch O’Kane in den Schoß. »Hier, Edward – bilden Sie sich weiter.«
    Die Nacht rollte dahin und in den Morgen hinein. Buffalo kam und ging. Von drei schnellen Whiskeys und ebenso vielen Gläsern Bier zum Nachspülen gestärkt, saß O’Kane im Schein der Gaslampe am Bett und betrachtete die hölzerne Form seines Arbeitgebers. Mr. McCormick war erneut blockiert, steif und starr, konnte er jetzt weniger Schaden und Ärger anrichten als ein Wasserspeier oder eine Bücherstütze, aber diesmal lag er in einer bequemeren Position, von den verdrehten Laken festgehalten wie eine ägyptische Mumie, die ohne diese Verschnürung auseinanderfallen würde. Trotzdem war es traurig, so traurig wie nichts, was O’Kane in der Irrenanstalt von Boston oder während seiner zwei Jahre im McLean gesehen hatte. Mr. McCormick war ein sehr gutaussehender Mann, stattlich wie ein Schauspieler oder ein Politiker – falls man den wahnsinnigen Blick in seinen Augen übersah –, und hier lag er nun, in der Blüte seines Lebens, mit all seinem Reichtum und seiner Bildung, mit einer Frau wie Katherine, dermaßen reduziert. Er war nicht mehr als ein Tier. Weniger. Ein Tier verstand es immerhin, sich reinzuhalten.
    O’Kane prüfte das Gesicht seines Arbeitgebers auf Anzeichen von Leben – fest geschlossene Lippen, regloser Unterkiefer, die Nase wie eine ins Gesicht gesteckte Stahlrute, die hellblauen Augen, die ins Nichts starrten – und fragte sich, was er wohl dachte, oder ob er überhaupt etwas dachte. Wußte er, daß er reiste? Wußte er, daß er nach Kalifornien fuhr? Wußte er von Orangen und Zitronen und wieviel Geld sich damit verdienen ließ? Aber was hätte er schon mit Geld angefangen? Er hatte mehr Geld, als hundert Menschen sich jemals wünschen konnten, und was hatte er davon?
    Während der letzten Stunde hatte O’Kane gelesen, aber er las nicht laut vor, und auch nicht im Seewolf . Nein, das Buch, das aufgeschlagen in

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