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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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seinem Schoß lag, war das, das ihm Dr. Hamilton gegeben hatte, und es verschlug ihm den Atem. Es war praktisch eine Enzyklopädie der sexuellen Perversionen – ganz unabhängig vom Titel, den hochtrabenden akademischen Würden des Autors und dem entschieden klinischen Tonfall. Eine wahre Parade von Sexualkannibalen, Päderasten, Satyrn, Urintrinkern und Kinderschändern, wie sie die menschliche Phantasie allein nicht erfunden haben könnte, marschierte da über die Seiten, einer nach dem anderen, und jede dreckige Obsession führte zu einer noch dreckigeren. Es war wirklich skandalös, dabei waren die Höhepunkte alle auf Latein wiedergegeben, um sie weniger schockierend darzustellen, und O’Kane mußte auf den Zusammenhang, ein lebhaftes Vorstellungsvermögen und seine Vergangenheit als Meßdiener zurückgreifen, um es sich zusammenzureimen.
    Er war gerade in ein Kapitel mit dem Titel Lustmord (Wollust potenziert zur Grausamkeit, Mordlust bis zur Anthropophagie) vertieft, der Alkohol bearbeitete sein Hirn wie eine chemische Massage, und er war sich kaum bewußt, wo er war oder was er tat, als Mr. McCormick auf einmal ein kehliges Geräusch von sich gab. Es war ein Krächzen oder Stöhnen, die Art von tiefem Würgelaut, mit dem ein Hund seine Nahrung erbricht. Dann aber hörte das Geräusch ebenso plötzlich, wie es eingesetzt hatte, wieder auf. Mr. McCormick rührte die ganze Zeit hindurch keinen Muskel, seine Augen blieben starr, der Kopf reglos über dem Kissen fixiert, wie das Sprungbrett in der städtischen Badeanstalt, das auch niemals dem Wasser näher kommt.
    Plötzlich stöhnte er erneut auf, und seine Lippen öffneten sich. »Uu-uu-uu-uu-uu«, sagte er.
    »Mr. McCormick? Haben Sie was?« O’Kane berührte ihn an der Schulter, um ihn zu beschwichtigen.
    Dies rief ein schnarrendes Vibrato hervor, wie eine Tür, die sich in ungeölten Angeln öffnet: »Ee-ee-ee-ee-ee.«
    »Ist schon gut. Ich bin ja hier bei Ihnen. Ich bin’s, O’Kane. Bleiben Sie ruhig liegen – Sie brauchen Ruhe.«
    »Ee-ee-ee-ee-ee.«
    Die Augen hatten sich nicht bewegt, nicht einmal geblinzelt. Die Zähne waren fest aufeinandergepreßt, und das kratzende, kehlige Schnarren schien sich geradewegs durch Schmelz und Zahnbein zu zwängen. »Aber, aber«, murmelte O’Kane. »Soll ich Ihnen vielleicht etwas vorlesen?« Und er beugte sich vor, um Krafft-Ebing wegzulegen und nach Jack London zu greifen, doch er bremste sich. Diese Seemannsgeschichten waren so langweilig – voller Wanten und Klüver und greulichem Cockney-Dialekt. Er haßte Seemannsgeschichten. Hatte sie immer gehaßt. Und in diesem Moment hatte er eine Idee, eine wundervolle, pervers aufblitzende Inspiration. Was zum Teufel, dachte er, und der Whiskey raste ihm durch die Adern auf seiner grandiosen Reise zu seinem Gehirn, seiner Zunge und seinen Fingerspitzen, die die Seiten wendeten. Bilden Sie sich weiter, Edward.
    »Mal sehen«, sagte er und blätterte in dem dicken Band in seinem Schoß. »›Koprolagnie, Besudelung des Haars, Leichenschänder‹, aha, da haben wir’s. Oh, das wird Ihnen gefallen, Mr. McCormick. Das wird Ihnen bestimmt gefallen.« Und dann begann er, mit jener präzisen, wohlmodulierten Stimme, die fünfzehn Jahre zuvor die Nonnen bei ihm ausgeformt hatten, laut vorzulesen, während der Zug durch die Nacht fuhr und sein Ein-Mann-Publikum stocksteif und gebannt vor ihm lag: »›Beobachtung 29: Der Mädchenschneider von Augsburg.‹«

4
    Hinterhältig, kleinlich,
kindisch und blasiert
    Ihr ganzes Leben lang war Katherine Dexter von Männern enttäuscht worden. Männer hatten sie auf mehr Arten frustriert, als sie zählen konnte – manche aktiv und mit bösem Vorsatz, andere passiv, ohne eigenes Zutun. Sie hatten sie im Stich gelassen, wenn sie sie am meisten brauchte, ihr das Herz gebrochen, im Weg gestanden, die Tür verriegelt, Hindernisse zwischen die Beine gelegt. Sie verallgemeinerte nicht gern, doch wenn sie es täte, hätte sie den durchschnittlichen Mann hinterhältig, kleinlich, kindisch und blasiert genannt, einen zu groß gewordenen Spielplatz-Maulhelden, von Natur aus sowie durch Mangel an Bewegung so lange aufgeschwemmt, bis ihm seine ungestalten Anzüge paßten und diese lächerlichen Badeanzüge, die er anlegte, um am Strand seine affenartigen Gliedmaßen zur Schau zu stellen. Er war unzuverlässig, laut, anstrengend und neigte zum Klüngeln, er verteidigte seine Privilegien wie ein schottischer Edelmann und erwartete von der ganzen

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