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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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keifende Nick, und Mr. McCormick lag praktisch im Koma auf dem Boden. »Verschwinde hier bloß, du stinkender Dreckskerl!« bellte Nick. »Ich weiß sowieso nicht, was zum Teufel du hier zu tun hast – du hast doch die Tagschicht, du Affe!« Er ging einfach die Treppe hinunter und zur Tür hinaus, ohne ein Wort zu irgend jemandem, und dann marschierte er die Einfahrt entlang, wurde von der Nacht verschluckt. Die Lichter zerflossen hinter ihm, die Finsternis legte sich auf ihn, in der Luft der Geruch des Meeres bei Ebbe, der kalte Unterleib der Nebelschwaden verfing sich in den Baumwipfeln, riß auf und entleerte sich. Er dachte nicht weiter darüber nach: er marschierte einfach los.
    Acht Kilometer. Seine Füße hatten Blasen – er war so etwas nicht mehr gewohnt –, er blutete aus der Wunde unter dem Auge, wo die Gabel ihn getroffen hatte, und seine Unterlippe war aufgeplatzt und angeschwollen. Er schimpfte die ganze Zeit auf Nick, den vierunddreißigjährigen Nick, der einen Zorn auf O’Kane hatte, weil O’Kane jünger und schlauer war und besser aussah, weil O’Kane Oberpfleger war und er nicht. Na ja, scheiß auf Nick. O’Kane hatte ihm ein Auge blau geschlagen und womöglich noch andere Schäden angerichtet, die nicht ganz so offensichtlich waren, aber er würde sie morgen spüren, das war sicher. Er ging weiter, und sein Zorn ließ allmählich nach, während der Nebel niedersank und die Kälte der Nacht ihn packte – langsam wurde er verwöhnt, so süchtig nach Sonne wie die Eidechsen auf den Felsen, und wie war es wohl jetzt gerade in Boston? Zwei Autos kamen vorbei, aber sie fuhren in die falsche Richtung. Und dann, um der Sache die Krone aufzusetzen, erreichte er die State Street genau fünf Minuten nachdem die letzte Straßenbahn weg war.
    Was er jetzt brauchte, das war ein Drink. Oder auch zwei. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund – Geburt, Todesfall, das Ende der Welt und von allem, was dem Menschen zugänglich war – hatte Cody Menhoffs Kneipe an diesem Donnerstag mitten im Mai seit 21.45 Uhr geschlossen, so daß erwachsene Männer vor Durst den Geist aufgaben, und er stand verdattert vor der verschlossenen Tür, leckte sich die verkrustete Wunde auf der Lippe, bis er einen Ruf von der anderen Straßenseite hörte. »Hallo, Partner«, rief jemand ihm zu, »hast du Lust auf nen Drink?«
    So landete er in einem Saloon in Spanishtown, dem brodelnden Ameisenhaufen aus Lehmziegelhäusern und hühnerstallartigen Baracken, wo alle Mexikaner und Chinesen wohnten, die in den Hotels arbeiteten, und wo man immer einen Schnaps und eine Hure fand – ohne daß er letzteres im Sinn hatte, nicht speziell jedenfalls. Statt dessen trank er eine schmutzigbraune Flüssigkeit aus einer schmutzigbraunen Tasse, neben sich einen Typ mit Schirmmütze und einem militärisch wirkenden Schnurrbart, der in O’Kanes Augen ebensogut Porfirio Díaz persönlich hätte sein können. Aber das war ihm egal. Er hegte keine Vorurteile – Tortillafresser, Itaker, Schlitzaugen, Krauts, Iren, es war ihm einerlei. Bring uns noch eine Runde und zum Runterspülen zwei Gläser von diesem mexikanischen Bier, das riecht wie feuchte Möse und schmeckt, als hätte man’s durch den Schritt von irgendwem seiner langen Unterhose gefiltert. Ja, genau, von dem da! Sláinte ! Oder wie sagt ihr? Salud ? Okay, salud !
    Er blieb dort ungefähr eine Stunde, lange genug, um die aufgesprungene Lippe zu vergessen und den Schmerz, der von einer Stelle knapp oberhalb seiner linken Schläfe ausstrahlte. Dort hatte ihn Nick zweimal mit einer Rechten erwischt, die sich angefühlt hatte wie eine Kanonenkugel. Später beschloß er, sich wieder mal ein paar amerikanische Gesichter anzusehen, und wanderte die Straße hinauf zu einer Kneipe, in der er schon ein- oder zweimal gewesen war. Drinnen herrschte festliche Stimmung. Es war jede Menge los. Er sah Frauenhüte, hochgestecktes Haar, Männer in Hemdsärmeln. Das elektrische Klavier setzte ein, und ein Besoffener, den er aus Menhoffs Bar zu kennen meinte, sang lauthals mit und fuhr mit den Händen wie in Pantomime über die Tastatur, als würde er spielen.
    Seinen letzten Wunsch wollten sie nicht erfüllen
Und so begrub man ihn in der einsamen Prärie
In ein mal zwei Meter hölzernen Dielen
So verrottet sein Leichnam in der einsamen Prärie
    Er hatte eine wunderschöne Stimme, dieser besoffene Kerl, klagend und ausdrucksvoll. O’Kane fragte ihn, ob er »Carrick Fergus« kannte, und er kannte es

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