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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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geistesgestört, seine medizinische Diagnose lautet »Demenz«. Er lebt in Kalifornien, wo eine Villa im exklusiven Wohnort Montecito, einer Kolonie von pensionierten Millionären, nur für ihn erhalten wird.
    Die Buchstaben flitzten wie Ameisen über die Seite und kondensierten sich zu großen schwarzen brüllenden Worten mit Köpfen und Beinen und dann zu Sätzen, die bohrten und bissen und es ihr kalt über den Rücken laufen ließen: wunderschön, klug, hochtalentiert, geistesgestört – wie konnten sie es wagen? Wie konnten sie es wagen? Und dann, weiter unten auf der Seite, wurden alle Verletzungen zu einer einzigen großen Wunde:
    Sein Arzt, Dr. Hamilton, gestattet ihr nicht, ihren Mann zu besuchen, geschweige denn mit ihm zu sprechen. Dennoch fährt Mrs. McCormick unbeirrt jeden Dezember nach Montecito, um das Weihnachtsfest mit dem geliebten Gatten zu verbringen.
    Stanley McCormick selbst weiß nicht, daß sie seine Nähe sucht. Seiner Frau ist dies wohl bewußt, und wenn sie auch ihr Leben dafür geben würde, ihm zu helfen, muß sie sich bekümmert vom Ort seiner Pflege abwenden und auf einsamen Spaziergängen über das Grundstück Trost suchen.
    Das Haus ist von einem prachtvollen Garten umgeben. Man hat Riven Rock als Garten Eden bezeichnet: lange Wege schlängeln sich zwischen lauschigen Hainen aus tropischen Laubbäumen und Palmen dahin. In diesem Paradies kann Mrs. McCormick beim Wandern ihren Kummer vergessen, wenn sie den Singvögeln lauscht und mit regem Interesse die kleine Menagerie betrachtet, die Dr. Hamilton hier errichtet hat, um diverse Affenarten anzusiedeln. Es gibt wissenschaftliche Motive für diese Menagerie, doch diese sind nur dem Wissenschaftler bekannt.
    Am liebsten hätte sie die Zeitung in Stücke gerissen und weggeworfen, doch sie tat es nicht, sie konnte es nicht, und obwohl sie versuchte, nicht an Stanley zu denken – an ihren Stanley, der niemandem gehörte außer ihr, weder seiner Mutter noch seinen Geschwistern, jetzt nicht mehr –, obwohl sie sich mit Leib und Seele in die Suffragettenbewegung gestürzt hatte, um ihn zu vergessen, hier war er wieder, ihr ganz privater Schmerz, aufgetischt, um den Pöbel in seinen Linoleumküchen zu ergötzen. Was würde ihre Mutter denken? Und ihr Vater – er mußte sich im Grabe umdrehen dabei.
    Die Hoffnung dahin , wie wahr. Doch was wußten sie schon? Sie hatten genug geschnüffelt, gestöbert und herumgestochert, um von der Hominidenkolonie zu erfahren, und doch erahnten sie nicht einmal ansatzweise deren Zweck – oder die Hoffnung, die darin lag. Es war obszön. Unverantwortlich. Klatschreportertum von seiner schlimmsten Seite. Und mit wem hatten sie wohl gesprochen? Mit Hamilton, bestimmt. Auch mit Leuten vom Personal – etwa mit O’Kane? Mit Nick? Sie entsann sich, sogar selbst einmal ein Interview gegeben zu haben, eines von Dutzenden, die mit ihrer Arbeit für Carrie und das Frauenwahlrecht zu tun hatten, aber sie hätte sich nie träumen lassen, daß man sich für ihr Privatleben interessieren könnte, als wäre sie eine Evelyn Nesbit, eine Sarah Bernhardt oder dergleichen. Dabei hatten sie unrecht – die Hoffnung war sehr wohl lebendig, wenn auch im steten Nieseln der Jahre etwas gedämpfter geworden. Über fünf Jahre hatte sie nun Stanley nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gesehen, seitdem er nach McLean gekommen war, außerdem war es ihm vor der jetzigen Zustandsverbesserung ja auch viel schlechter gegangen – damals nach seiner Flucht aus dem Fenster und dem Abstieg in die Finsternis der Nacht, und ihr schien, als wäre er die ganze Zeit über begraben gewesen, aber es gab dennoch Hoffnung, jawohl. Seine Pfleger hatten ihm beigebracht, wieder aufzustehen und selbst zu essen, und er war jetzt auch manchmal ganz klar, jedenfalls hatte man ihr das erzählt... und dann die Wissenschaft, die Wissenschaft machte Riesenfortschritte, in der Drüsenforschung und auch in der Psychotherapie, mit Freud, Jung und Adler. Es bestand Hoffnung, reichlich Hoffnung, und sie würde nie der Verzweiflung anheimfallen – also weshalb schrieben sie so etwas?
    So hatte sie eine Weile im Sessel gesessen, die Zeitung auf dem Schoß, die Bucht draußen vor den Fenstern von dichten Wolkenwirbeln verwischt, die sich wie Stahlfedern über der stählernen Wasserfläche kräuselten und wieder entrollten, vom Salon unten drang das Geplauder der Frauen in abgehackten Fetzen zu ihr hinauf. Und dann sah sie wieder auf diesen Artikel über sie

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