Rixende ... : Historischer Roman (German Edition)
riss den Brief auf.
„Liebste!“ stand dort geschrieben. Die schwermütige Gleichgültigkeit, die Rixende seit ihrer Rückkehr von der Höhle in ihren Klauen hielt, war im Nu verflogen, eine längst vergessene Wärme durchflutete sie. „Ich habe es nicht länger ausgehalten ohne Dich. Wenn Du noch etwas für mich empfindest, so komm zum Hintereingang eures Lagers. Ich will mich dort so verbergen, dass mich niemand sieht.“
Statt einer Unterschrift hatte Fulco ein lustiges Einhorn unter seine Zeilen gemalt.
Rixende überlegte nicht lange. Wie hatte sie nur zweifeln können? Er liebte sie noch immer. Sie kämmte sich mit zehn, zwölf Strichen das Haar, warf sich rasch einen warmen Umhang über ihr Nachtgewand und verließ eilends ihre Kammer.
„Aucassinne, ich muss noch einmal ausgehen. Geh schlafen, es ist alles in Ordnung!“
„Ja, Herrin“, brummte der Mann. Seinem schlichten Verstand mangelte es an Phantasie, denn er hatte leider nicht das flinke Denken seiner Mutter geerbt. So trollte er sich in seine Kammer, wo er auf seinen Strohsack sank und sogleich in tiefen Schlaf fiel.
Rixende nahm den großen Lagerschlüssel vom Brett, löschte vorsichtig das Licht und verließ so leise wie möglich das Rote Haus. Auf der Gasse war alles ruhig. Es war stockdunkel und es regnete in Strömen. Nun, den Hintereingang des Lagers konnte sie auch gut ohne Laterne finden. Rixende zog die Kapuze weit ins Gesicht, tastete sich an den Häusern entlang und bog um die Ecke. Dort hielt sie inne, denn sie glaubte Schritte gehört zu haben. Sie lauschte. Ja, da waren sie wieder. Unregelmäßige stolpernde Schritte, die einmal stehenblieben, dann wieder weiterliefen. Rasch drückte sie sich in einen Mauervorsprung. Die Schritte kamen näher. Eine Schattengestalt bewegte sich schemengleich auf sie zu. Erleichtert merkte Rixende, dass es sich offensichtlich um einen Betrunkenen handelte. Doch leider begann der Mann nun auch noch zu grölen. Dieser Dummkopf! Er torkelte so nahe an ihr vorüber, dass sie seinen Atem riechen konnte. Doch er bemerkte sie nicht, weil er inzwischen aus voller Kehle sang. Allerdings wurden nun etliche Fenster aufgerissen und weiße Nachthauben – die Gesichter waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen - riefen Schimpfworte auf die Gasse hinunter. Bald jedoch kehrte wieder Ruhe ein. Der Mann verschwand und mit ihm die Hauben. Rixende tastete sich weiter das kurze Stück bis zum Tor die Mauer entlang. Gerade als sie den Schlüssel hervorziehen wollte, packte sie plötzlich jemand bei der Hand. Rixende dachte, das Herz müsse ihr stehen bleiben.
„Ich bin`s“, raunte da eine vertraute Stimme an ihrem Ohr, und als sie sich umdrehte, nahm vor ihren Augen langsam Fulcos dunkle Gestalt Konturen an. Ja, sie sah für einen kurzen Augenblick sogar sein verlockendes Lächeln, als ein Schimmer Mondlicht auf seine Zähne fiel. Wie hatte sie sich nach diesem Lächeln, diesem Mund gesehnt! Statt sich zu beruhigen, begann ihr Herz nun noch lauter zu schlagen, so dass sie schon befürchtete, ganz Carcassonne könnte es für die Glocken von St. Nazaire halten. Vergeblich versuchte sie mehrere Male, den Schlüssel in das Schloss zu stecken. Fulco lachte leise, nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und öffnete selbst das Tor. Hand in Hand, denn sie konnten schon jetzt nicht mehr voneinander lassen, tappten sie im Dunkeln durch das große Lager, wobei Rixende verzweifelt in den leeren Gestellen nach irgendeiner dort zurückgebliebenen Lampe tastete. Doch Fulco hatte vorgesorgt. In dem Beutel, den er bei sich trug, war alles, was sie brauchten.
„Komm mit mir in den kleinen Lagerraum hinauf, er hat keine Fenster, dort können wir unbesorgt Licht machen“, meinte sie mit rauer Stimme.
Sie küssten sich so leidenschaftlich und hungrig, wie sie es seit den Tagen in der Burg des Einhorns nicht mehr getan hatten und breiteten dann auf den Dielen etliche härene Decken aus, die in einer Ecke herumgelegen hatten.
Ja, es ist die Liebe, die in Gang hält Sonne und Sterne.
„Ich komme mir vor wie Protesilaos“, sagte Fulco, als sie völlig erschöpft, aber noch immer Arm in Arm beinanderlagen.
„Wer ist Protesilaos?“ fragte Rixende und stützte sich auf, um Fulco ins Gesicht zu sehen.
„ Bella gerant Alii, Protesilaus Amet, sagte einst Ovid. Mögen andere Krieg führen, Protesilaos liebe! Die Geschichte geht so, ich will sie dir erzählen: Als die Griechen vor Troja zogen, sprang Protesilaos den anderen voraus an
Weitere Kostenlose Bücher