Robert Enke
des Trainings
gab er sein Handy Tommy Westphal, falls ein Anruf aus der Klinik kam. Danach fuhr er direkt zu Lara und |267| Teresa. In der Kantine der Klinik aßen die Eltern zu Mittag und blieben bis zum Ende der Besucherzeit um 20 Uhr, jeden Tag.
Nicht selten war die Tür zur Intensivstation verschlossen. Sie mussten mit den anderen Eltern im Wartezimmer bleiben, es vergingen
zwei Stunden oder drei, sie wussten nicht, welches der vier Kinder gerade in der Station um sein Leben rang; ob es ihres war.
Er dachte: »Wer es wirklich schlecht hat, ist Teresa. Sie hat kein Fußballspiel, in dem sie 90 Minuten abtauchen kann.« Er
erkannte, wie selbst das Lästigste am Fußball, die stundenlangen Busfahrten zu Auswärtsspielen, zur Ablenkung für ihn wurden.
Er besaß noch immer keinen tragbaren Musikspieler oder einen Laptop, um Filme anzuschauen. Er war der Einzige im Bus, der
über den Bordkanal Radio hörte. 1Live wurde sein Sender, wo die Programme
Raum und Zeit
oder
Kultkomplex
hießen und die Musik, ohne dass er sie genau definieren konnte, anders war. Der Busfahrer verfluchte ihn liebevoll, wenn er
nur wegen ihm alle sechzig, siebzig Kilometer schon wieder die Frequenz suchen musste.
Unterdessen entdeckte Teresa die Sättigung. Ein Sensor maß die Sauerstoffsättigung in Laras Blut. Sie durfte nie unter 60
Prozent fallen, dann wurde es kritisch, dann tutete der Sensor. Teresa bekam das Tuten nicht mehr aus den Ohren. Sie hörte
es auch, wenn sie schon nicht mehr in der Klinik saß, abends im Bett in Empede. Die Sättigung wurde ihre Fixierung, die Meßlatte
ihrer Angst um Lara. Mitten in der Nacht, wenn sie in der Küche Muttermilch für Lara abpumpte, konnte sie nicht anders als
im Krankenhaus anrufen, um zu erfahren, bei wie viel Prozent die Sauerstoffsättigung lag.
Sie hatte ihrem Mann in einer fünfmonatigen Depression beigestanden und saß nun den ganzen Tag auf der Intensivstation an
der Seite ihrer Tochter, die sie noch kein einziges Mal im Arm halten konnte.
»Bitte, geh doch mal nach Hause, ruh dich aus, ich bleibe bei Lara«, sagte Robert zu ihr.
Aber sie konnte nicht gehen, sie musste bei ihrer Tochter bleiben und auf die Sättigungsanzeige starren.
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Robert und Teresa mit ihren Familien bei Laras Taufe. [20]
Am nächsten Morgen, an jedem Morgen, nahmen sie sich vor, sich von der Situation nicht das Glück rauben zu lassen. Sie hatten
eine Tochter. Und es gab nicht wenige Tage, da schafften sie es zu lachen, sogar im Wartezimmer der Intensivstation. Sie entdeckten
Heiterkeit, wo keine war, etwa wenn Robert die nüchterne Standardantwort der Ärzte auf die Frage, wie es Lara gehe, imitierte:
»Wir können nicht ganz unzufrieden sein.« Und natürlich fragten sie sich irgendwann an denselben Tagen doch wieder, warum
die Ärzte nicht einmal, wenigstens einmal etwas Optimistisches über Laras Gesundheitszustand sagen konnten.
Ganz in seine eigene Welt versunken, hatte ihr Mitbewohner Schwierigkeiten, die Belastung zu erkennen, unter der sie lebten.
Seinen Praktikanten bestellte Jacques täglich für 8.30 Uhr zum Arbeitsbeginn. Der junge Mann kam pünktlich, und Jacques schlief
mit vergleichbarer Verlässlichkeit noch. Ihre halbe Stunde mit Robert beim Frühstück war für Teresa ein Schatz geworden, fast
der einzige Moment des Tages, den sie für sich hatten. »Aber ich bin keine, die dann einfach so tun kann, als wäre der Praktikant
nicht da. Also habe ich ihn gefragt, magst du auch |269| einen Kaffee«, und dahin war der geliebte Augenblick allein mit Robert.
Gegen neun erschien Jacques. »Dieser Lärm! Diese Kaffeemaschine macht mich krank! Was machst du für einen Stress, Teresa?«
Sie hatten eine Abmachung getroffen. Er würde im Obergeschoss wohnen, sie unten. Aber die Gemeinschaftsräume lagen im Erdgeschoss,
die Küche, die Diele, das Wohnzimmer, der Zugang zum Garten. Faktisch lebten sie zu dritt im Erdgeschoss; mindestens. Im September
kam ein Dichterfreund von Jacques für Wochen zu Besuch, er schlug sein Quartier im Wohnzimmer auf. Einmal kamen Teresa und
Robert von der Klinik nach Hause. In der Diele standen vier Geigerinnen. Sie waren dabei, ein Gedicht des Lyrikerfreundes
musikalisch umzusetzen.
Jacques war eben so, versuchte Robert Enke nicht zu vergessen. Wenn ihm dies gelang, fand er seinen Künstler durchaus unterhaltsam.
Meistens flüchtete er allerdings abends vor den Fernseher, ein Fußballspiel schauen; ein Alibi haben,
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