Robinson Crusoe
Stunden, ja ganze Tage damit, mir in den lebhaftesten Farben auszumalen, was ich hätte tun müssen, wenn ich nichts aus dem Schiff geborgen hätte: wie ich mir gar keine Nahrung hätte beschaffen können, außer Fische und Schildkröten, und daß ich, da es ja geraume Zeit dauerte, bis ich welche fand, schon vorher verhungert wäre; daß ich, wenn ich nicht verhungert wäre, wie ein bloßer Wilder hätte leben müssen; daß es mir, wenn ich auf irgendwelche Art eine Geiß oder einen Vogel erlegt hätte, gar nicht möglich gewesen wäre, meine Beute auszuweiden oder das Fleisch von der Haut zu trennen und zu zerlegen, sondern daß ich sie hätte mit meinen Zähnen benagen und mit meinen Klauen zerreißen müssen wie ein Tier.
Diese Betrachtungen machten mich sehr erkenntlich für die Güte der Vorsehung gegen mich und sehr dankbar für meinen gegenwärtigen Zustand mit all seinen Beschwerden und Widrigkeiten. Und auch hier wieder möchte ich diejenigen, die im Unglück so gern sagen: «Gibt es ein Elend wie das meinige?», zur Besinnung mahnen. Mögen sie bedenken, wie vieles schlimmer es anderen Menschen ergeht und wieviel schlimmer es ihnen selbst hätte ergehen können, wenn es der Vorsehung so gefallen hätte.
Und noch eine andere Erwägung half mir, mein Gemüt mit Hoffnung zu trösten: nämlich ein Vergleich meiner jetzigen Lage mit dem, was ich eigentlich verdient hätte und daher mit Fug von der Vorsehung hätte erwarten müssen. Ich hatte ein abscheuliches Leben geführt, ganz ohne Erkenntnis und Furcht Gottes. Ich war wohl von Vater und Mutter gehörig unterwiesen worden, und sie hatten es von Anbeginn nicht an Bemühungen fehlen lassen, mir fromme Ehrfurcht vor Gott und Gefühl für meine Pflichten und für Zweck und Sinn meines Daseins einzuimpfen. Aber ach, da ich schon früh dem Seefahrerleben anheimfiel, das von allen Lebensarten die am wenigsten gottesfürchtige ist, obwohl einem die Schrecken Gottes dabei jederzeit vor Augen stehen - ich sage, da ich schon früh dem Seefahrerleben anheimfiel und in die Gesellschaft von Seefahrern geriet, so wurde mir das bißchen Frömmigkeit, das ich mir noch bewahrt hatte, von meinen Messekameraden weggelacht oder ging mir dadurch verloren, daß ich alle Gefahren verachten lernte und es mir zur Gewohnheit wurde, dem Tod ins Auge zu blicken, sowie auch dadurch, daß ich gar keine Gelegenheit hatte, mit Menschen umzugehen, die anders waren als ich selbst, oder etwas zu hören, das gut oder um Gutes bemüht war.
So bar alles Guten war ich und so ohne jedes Gefühl für das, was ich war oder was aus mir werden sollte, daß mir bei den größten Errettungen, die mir zuteil wurden, wie meiner Flucht aus Salli, meiner Aufnahme durch den portugiesischen Kapitän, meiner so glücklichen Ansiedelung in Brasilien und der Ankunft der Fracht aus England und so fort - daß mir bei alledem nicht ein einziges Mal die Worte «Gott sei gedankt» in den Sinn oder auf die Lippen kamen. Nein, auch in der größten Not dachte ich mit keinem Gedanken daran, zu ihm zu beten oder zu sagen: «Herr, erbarme dich meiner» oder den Namen Gottes irgendwie zu erwähnen, außer um zu fluchen und zu lästern.
Viele Monate lang lagen mir, wie schon gesagt, schreckliche Gedanken über mein bisheriges gottloses und verhärtetes Leben auf der Seele, und wenn ich mich umschaute und bedachte, welche besondere Fürsorge über mir gewaltet hatte, seit ich hierher gekommen war, und wie gütig Gott sich gegen mich erwiesen und mich nicht nur milder gestraft hatte, als meine Sünden verdienten, sondern auch mich so reichlich versorgt hatte, so gab mir das große Hoffnung, daß meine Reue angenommen worden war und Gott noch Gnade für mich hatte.
Mit solchen Betrachtungen brachte ich mein Gemüt nicht nur zur Ergebung in Gottes Willen in meiner jetzigen Lage, sondern auch zu aufrichtiger Dankbarkeit für meinen Zustand und zu der Einsicht, daß ich, der noch am Leben war, mich nicht beklagen dürfe, da mich die verdiente Strafe für meine Sünden nicht getroffen hatte; daß mir hier so viele Gnaden zuteil geworden seien, wie ich es nie hätte erwarten können; daß ich nicht über meine Lage jammern, sondern nur frohlocken dürfe und täglich zu danken habe für das tägliche Brot, das mir nur durch eine Fülle von Wundern bereitet werden konnte. Ja, ich mußte mir sagen, daß ich wirklich durch ein Wunder gespeist worden war, nicht geringer als die Speisung Elias durch die Raben, oder vielmehr durch eine
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