Robocalypse: Roman (German Edition)
doch was!«, schreie ich die anderen an, aber niemand beachtet mich. Alle stehen bloß mit offenem Mund da. Ich mache die Hand auf und zu, und vor Schmerz wird mir ganz übel. Wieso tut denn niemand was?
Mr. Nomura sinkt auf die Knie, die Hände sanft um Mikikos Unterarme gelegt. Er hält sie an den Armen und leistet immer noch keinerlei Widerstand. Während sie ihm die Luftröhre zerquetscht, schaut er ihr einfach nur ins Gesicht. Das blutige Rinnsal, das seine Wange runterläuft, sammelt sich in seiner Halskuhle. Sie sieht ihm direkt in die Augen, ihr Gesicht ist verzerrt, aber ihr Blick klar und fest. Hinter seiner zierlichen Nickelbrille sind seine Augen nicht minder klar und ungetrübt.
Wir hätten ihm nie diesen Streich spielen dürfen.
In dem Moment kehrt Jun zurück, in den Händen die großen rechteckigen Paddles eines Defibrillators. Er drängt sich zu den beiden durch und klatscht dem Androiden die Elektroden von beiden Seiten an den Kopf.
Mikiko sieht Mr. Nomura die ganze Zeit weiter in die Augen.
Auf Kinn und Mund des alten Mannes glänzt schaumiger Speichel. Seine Augen verdrehen sich, und er wird ohnmächtig. Jun legt den Daumen auf den Stromknopf. Fünfhundert Volt jagen durch den Kopf des Androiden und pusten ihm die Lichter aus. Die Puppe fällt zu Boden, und ihr Gesicht kommt genau gegenüber dem von Mr. Nomura auf. Ihre Augen sind offen, doch sie sieht nichts mehr. Seine Augen sind geschlossen und von Tränen umkränzt.
Keiner der beiden atmet.
Mir tut ehrlich leid, was wir Mr. Nomura angetan haben. Dafür, dass die Attacke des Roboters so weit ging, fühle ich mich nicht wirklich verantwortlich. Selbst ein alter Mann wie er hätte sich gegen einen so schwachen Roboter leicht wehren können. Ich fühle mich schlecht, weil mir inzwischen klar ist, dass er ganz bewusst auf jede Gegenwehr verzichtet hat. Er muss dieses hässliche Stück Plastik tatsächlich von ganzem Herzen lieben.
Ich sinke auf die Knie und löse mit schmerzender Hand die zarten rosa Finger von Mr. Nomuras Kehle. Dann rolle ich ihn auf den Rücken und fange mit der Herzmassage an. Mit schnellen kräftigen Stößen drücke ich sein Brustbein nieder. Ich bete zu meinen Ahnen, dass er wieder aufwacht. Das hätte alles nie passieren dürfen. Ich schäme mich zutiefst für das, was ich getan habe.
Endlich hebt sich Mr. Nomuras Brust, und er zieht ächzend Luft in seine Lunge. Ich lehne mich auf die Fersen und halte meine verletzte Hand. Sein Atem normalisiert sich allmählich. Schließlich setzt er sich auf und blickt verwirrt um sich. Er wischt sich über den Mund und korrigiert den Sitz seiner Brille.
Und zum ersten Mal sind wir es, die ihm nicht in die Augen sehen können.
»Es tut mir leid«, sage ich zu dem alten Mann. »Das wollte ich nicht.«
Aber Mr. Nomura beachtet mich gar nicht. Mit kreidebleichem Gesicht starrt er auf Mikiko hinab, die in ihrem ganz schmutzig gewordenen roten Kleid reglos neben ihm liegt.
Jun wirft die Elektroden zur Seite. Sie landen scheppernd auf dem Beton.
»Bitte vergeben Sie mir, Nomura-san«, flüstert er und neigt beschämt den Kopf. »Was ich getan habe, ist unverzeihlich.« Er geht in die Hocke und holt den Egel aus Mikikos Tasche. Dann richtet er sich auf und marschiert davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Viele der anderen Arbeiter sind ebenfalls bereits zu ihren Arbeitsplätzen zurückgeeilt. Die Übrigen ziehen sich jetzt zurück.
Die Mittagspause ist vorbei.
Nur Mr. Nomura und ich sitzen noch auf dem Gang. Er streckt die Hand aus und streichelt der Puppe sanft über die Stirn. An der Seite ihres Kopfes ist das Plastik schwarz und verkohlt. Die Glaslinse ihres rechten Auges hat einen Sprung.
Mr. Nomura zieht ihren Kopf auf seinen Schoß und berührt zärtlich mit dem Zeigefinger ihre Lippen. Jahre inniger Vertrautheit sprechen aus seinen Gesten. Ich frage mich, wie die beiden sich getroffen haben. Was mögen sie zusammen alles durchgemacht haben?
Ich kann diese Art von Liebe nicht verstehen. So etwas habe ich nie zuvor gesehen. Seit wie vielen Jahren sitzt Mr. Nomura abends in seiner winzigen Wohnung und lässt sich von diesem künstlichen Geschöpf den Tee servieren? Wieso sieht sie so alt aus? Ist ihr Aussehen dem eines bestimmten Menschen nachempfunden, und wenn ja, welche tote Frau trug früher ihr Gesicht?
Der kleine alte Mann schaukelt sanft vor und zurück und streicht die verklebten Strähnen aus Mikikos Stirn. Als er ihre geschmolzene Wange berührt,
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