Robur der Sieger
eine Sprengkugel nur
wenige 20 Fuß vom Verdeck der ›Albatros‹ platzte, stieg die-
ser nach den unerreichbaren Zonen des Himmels empor.
Im Laufe der darauffolgenden Tage ereignete sich kein
Zwischenfall, den sich die Gefangenen hätten zunutze ma-
chen können. Die Richtung des Aeronefs blieb unabänder-
lich südwestlich, was darauf hindeutete, daß er sich Hin-
dustan nähern sollte. Übrigens bemerkte man, daß der
fortwährend höher aufsteigende Erdboden die ›Albatros‹
nötigte, sich nach den Linien ihres Profils zu richten. Etwa
10 Stunden nach der Weiterfahrt von Peking konnten On-
kel Prudent und Phil Evans an der Grenze von Chen-Si ei-
nen Teil der Großen Mauer erkennen. Dann kamen sie, un-
ter Umgehung der Bung-Berge, über und durch das Tal von
Wany-Ho und überschritten die Grenze des chinesischen
Kaiserreichs, da, wo diese mit Tibet zusammenstößt.
Tibet bildete eine vegetationslose Hochebene, da und
dort mit schneebedeckten Gipfeln, trockenen Schluchten
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oder von Gletschern genährten Bergströmen, mit Abgrün-
den, aus denen mächtige Salzlager heraufschimmern, und
mit vielen, von grünenden Forsten eingerahmten Seebe-
cken.
Das auf 450 Millimeter gesunkene Wetterglas zeigte jetzt
eine Höhe von 4.000 Meter über dem Meer an. In dieser
Höhe überschritt die Temperatur, obgleich man sich jetzt in
den wärmsten Monaten der nördlichen Halbkugel befand,
nicht den Gefrierpunkt. Diese starke Abkühlung zusammen
mit der Schnelligkeit der ›Albatros‹ machte die Situation
fast unerträglich, und obwohl die beiden Kollegen warme
Reisedecken zur Verfügung hatten, zogen sie es doch vor, in
ihre Ruffs zurückzukehren.
Selbstverständlich mußte den Auftriebsschrauben eine
außerordentliche Schnelligkeit erteilt werden, um den Ae-
ronef in der hier schon recht verdünnten Luft zu halten.
Diese arbeiteten jedoch in vorzüglichstem Zusammenwir-
ken, und es schien, als ob die Insassen des Apparats durch
das Schwirren ihrer Flügel gewiegt würden.
An diesem Tag sah Garlok, eine Stadt des nördlichen Ti-
bet und der Hauptort der Provinz Gavi-Khorsum, die ›Alba-
tros‹ etwa in der Größe einer Brieftaube vorüberschweben.
Am 27. Juni bemerkten Onkel Prudent und Phil Evans
einen gewaltigen Damm mit verschiedenen, in ewigem
Schnee verlorenen Spitzen, der den Horizont begrenzte.
An das Ruff auf dem Bug gelehnt, um dem Luftdruck bei
der so schnellen Fortbewegung widerstehen zu können, sa-
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hen beide die kolossalen Bergmassen, die dem Aeronef vo-
rauszulaufen schienen.
»Augenscheinlich der Himalaya«, sagte Phil Evans,
»wahrscheinlich wird Robur nur den unteren Teil umkrei-
sen, ohne nach Indien einzudringen.«
»Desto schlimmer«, antwortete Onkel Prudent, »auf
diesem ungeheuren Gebiet hätten wir vielleicht Gelegen-
heit –«
»Wenigstens, wenn er um die Bergkette nicht über Birma
im Osten oder über Nepal im Westen fährt.«
»Ich möchte darauf wetten, daß er darüber gehen wird.«
»Auf jeden Fall!« ließ sich da eine Stimme vernehmen.
Am folgenden Tag, am 28. Juni, befand sich die ›Alba-
tros‹ über der Provinz Zyang gegenüber jenen gewaltigen
Bergmassen. An der anderen Seite des Himalaya lag das Ge-
biet von Nepal.
Wenn man von Norden kommt, schneiden nacheinander
drei Gebirgsketten den Weg nach Indien. Die beiden nörd-
lichen, zwischen denen die ›Albatros‹ wie ein Schiff zwi-
schen ungeheuren Klippen dahinglitt, sind die ersten Stufen
des Grenzwalls im Süden von Zentralasien. Der Kuen-Lün,
und nach diesem der Karakorum bezeichnen zuerst dieses
längliche und mit dem Himalaya parallel verlaufende Tal,
ungefähr in jener Höhenlage, in der sich die Stromgebiete
des Indus im Westen und des Brahmaputra im Osten ab-
gabeln.
Welch wunderbares orographisches System! Hier ragen
über 200 schon gemessene Gipfel auf, von denen 17 eine
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Höhe von 25.000 Fuß übersteigen! Vor der ›Albatros‹ er-
hob sich der Mount Everest auf 8.840 Meter Höhe; ihm zur
Rechten der Dawalaghiri, 8.200 Meter hoch; zur Linken der
Kinahanjunga, 8.592 Meter, der also seit den letzten genau-
eren Messungen des Mount Everest nur noch die zweite
Stelle einnimmt.
Offenbar hatte Robur nicht die Absicht, über jene Gip-
fel hinwegzugehen, sondern er kannte zweifelsohne schon
die verschiedenen Pässe des Himalaya, unter anderen den
Ibi-Yamin-Paß, den die Gebrüder Schlagintweit 1856 in ei-
ner
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