Robur der Sieger
Sollte sie wirklich
noch mehr als eine Reise um die Erde ausführen? Auf jeden
Fall mußte diese Fahrt doch irgendwo ein Ende nehmen.
Daß Robur sein ganzes Leben in den Lüften, an Bord des
Aeronefs zubringen sollte, ohne jemals zur Erde hinunter-
zugehen, war doch wohl nicht anzunehmen, denn wie hätte
er seine Vorräte an Munition und Lebensmitteln erneuern
sollen, ohne das für das Funktionieren der Maschine not-
wendige Material zu erwähnen? Unbedingt mußte er also
einen Zufluchtsort, eine Art Nothafen haben, und wahr-
scheinlich auf einem unbekannten und schwer erreichba-
ren Punkt der Erde, wo die ›Albatros‹ sich mit allen Bedürf-
nissen frisch versehen konnte. Mit den Bewohnern der Erde
mochte er jeden Verkehr abgebrochen haben, mit der Erde
als solcher aber gewiß nicht.
Doch wenn das der Fall war, wo lag dieser Punkt? Wie
mochte der Ingenieur dazu gelangt sein, ihn zu erwählen?
Erwartete ihn eine kleine Kolonie etwa als ihren Herrn?
Konnte er von da neue Mannschaften erhalten? Und zu-
nächst, wie war er überhaupt dazu gekommen, seine, aus
den verschiedensten Ländern stammenden Leute an sein
Schicksal zu binden? Über welche Mittel verfügte er fer-
ner, um einen so kostspieligen Apparat erbauen zu können,
dessen ganze Konstruktion so geheimgehalten worden war?
— 216 —
Sein Unterhalt freilich schien nicht besonders viel zu bean-
spruchen. An Bord führte man fast ein gemeinsames Leben,
wie in einer Familie oder wie glückliche Leute, die kein Ge-
heimnis voreinander haben. Doch, wer war eigentlich jener
Robur? Woher kam er? Welcher Art war seine Vergangen-
heit? Das waren ebenso viele unlösbare Rätsel, und der, auf
den sie Bezug hatten, würde gewiß der letzte sein, eine Er-
klärung darüber abzugeben.
Es ist gewiß nicht zu verwundern, wenn diese Situation
voller unenthüllbarer Probleme die beiden Kollegen mehr
und mehr erregte. Sich so ins Unbekannte hinaus entführt
und den endlichen Ausgang eines solchen Abenteuers nicht
im geringsten vorauszusehen, selbst daran zu zweifeln, daß
es überhaupt jemals ein Ende nehme, zum ewigen Umher-
fliegen verurteilt zu sein – mußte das den Vorsitzenden und
den Schriftführer des Weldon-Instituts nicht aufs Äußerste
treiben?
Inzwischen schwebte die ›Albatros‹ am Abend des 11. Juli
über den Atlantischen Ozean hin. Als am nächsten Morgen
die Sonne aufging, erhob sie sich über die kreisförmige Li-
nie, in der Himmel und Wasser zusammenzutreffen schei-
nen. Trotz des weit ausgedehnten Gesichtsfelds war doch
nirgends ein Land in Sicht und Afrika schon vollständig
hinter dem nördlichen Horizont verschwunden.
Als Frycollin sich einmal aus seiner Kabine wagte, und
das weite Meer unter sich sah, wurde er sofort von der grim-
migsten Angst gepackt. ›Unter sich‹ ist eigentlich nicht der
richtige Ausdruck, es wäre besser zu sagen ›um sich‹, denn
— 217 —
für einen auf sehr hohem Punkt befindlichen Beobachter
erscheint es, als ob der Abgrund ihn von allen Seiten um-
gäbe, und der Horizont weicht dabei gleichsam zurück,
ohne daß man je seine Grenzen erreichen könnte.
Physikalisch erklärte sich Frycollin diese Erscheinung
sicherlich nicht, aber er fühlte sie moralisch. Das genügte
aber schon, um in ihm die ›Angst vor der Leere‹ zu erzeu-
gen, deren sich manche, sonst ganz mutige Naturen nicht
entziehen können.
Jedenfalls erging sich der Neger aus Klugheit nicht in
den gewohnten Klagen. Mit geschlossenen Augen tastete
er sich nach seiner Kabine zurück, entschlossen, diese für
lange Zeit nicht wieder zu verlassen.
Von den 373.895.343 Quadratkilometer,* welche die
Oberfläche der Meere einnehmen, entfällt über ein Viertel
auf den Atlantischen Ozean. Es schien aber gar nicht, als ob
der Ingenieur jetzt besondere Eile habe, wenigstens hatte
er nicht Befehl gegeben, den Aeronef mit voller Geschwin-
digkeit arbeiten zu lassen. Übrigens hätte dieser auch die
Fahrgeschwindigkeit wie über Europa hin nicht erreichen
können. In den Gegenden, in denen der Südwestwind vor-
herrscht, lief er diesem fast entgegen, und obwohl er nur
schwach zu nennen war, so bot der Apparat ihm doch eine
große Angriffsfläche.
Die neuesten und auf eine große Anzahl von Beobach-
* Die Oberfläche des festen Landes beträgt 136.055.371 Quadrat-
kilometer.
— 218 —
tungen gestützten meteorologischen Arbeiten haben eine
gewisse Konvergenz der Passate, entweder nach
Weitere Kostenlose Bücher