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Rocking Horse Road (German Edition)

Rocking Horse Road (German Edition)

Titel: Rocking Horse Road (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Nixon
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eines Rugbyspiels geführt (New Brighton 21, Old Boys 12 – ein seltener Sieg für die örtliche Mannschaft).
    Heutzutage führen wir natürlich so gut wie keine Befragungen mehr durch. Alle sind längst gemacht, ausgewertet und in unserem Lagerraum archiviert. Nur manchmal noch sprechen wir jemanden an, um uns Klarheit über ein Detail zu verschaffen, aber das läßt sich meist telefonisch erledigen. Doch jahrelang waren wir die Jungs, die überall mit Papier und Bleistift rumliefen, oder – als wir älter und technisch versierter waren – die jungen Männer mit einem klobigen schwarzen Tonbandgerät über der Schulter. Wir haben Stunden über Stunden an Interviews auf Band (Exponate T1–T38).
    Mrs. Asher hat uns nur ein einziges Mal zu einem Gespräch empfangen, und das geschah erst vor ein paar Jahren, als sie schon einundsiebzig war. Wir besuchten sie in Calbourne Courts, das ist eine Ansammlung von Betonblöcken mit Einzimmerappartements, kreisförmig um ein Rasenstück angeordnet – wie eine Planwagenburg kurz vor dem Indianerangriff.
    Auch im Alter trug Mrs. Asher noch immer Schwarz. Möglicherweise hatte sie einige der Kleidungsstücke schon, als wir fünfzehn waren (Al Penny nannte sie später einmal »unsere Miss Havisham«). Die silbernen Armreifen hingen noch immer an ihren Handgelenken. Aber Mrs. Ashers attraktive Straffheit war dahin, ihr Gesicht war so aufgedunsen, daß wir fast nicht mehr Lucys Mutter darin erkennen konnten. Vielleicht war das die Nebenwirkung eines Medikaments, vielleicht aber hatte sie sich nach Jahren der Beherrschtheit schlicht gehenlassen.
    Obwohl wir inzwischen Männer mittleren Alters waren, fühlten wir uns in ihrer Gegenwart wieder als die Fünfzehnjährigen, die damals in ihren dunklen Laden getreten waren. Verlegen saßen wir in ihrem vollgestopften Wohnzimmer und aßen die weichen Pfadfinderkekse, die sie uns anbot. Wir achteten darauf, nicht auf den lachsrosafarbenen Teppich zu krümeln. Mrs. Asher saß in ihrem breiten Sessel und sprach in abgehackten Sätzen. Sie antwortete auf keine einzige unserer Fragen direkt. Sie begann eine Geschichte, die dann plötzlich abbrach, wie wenn man einen Wasserhahn zudreht. Oder eine weitschweifige Erinnerung verwandelte sich mitten im Satz in eine ganz andere, an einen Vorfall, der Jahre früher oder Jahre später passiert sein mochte.
    Es kam für uns nicht überraschend, als wir erfuhren, daß Mrs. Asher an Alzheimer litt. Das war rund acht Monate nachdem wir mit ihr gesprochen hatten. Al Penny hat sie in dem Pflegeheim besucht, in dem sie noch immer lebt. Er gab sich als ihr Sohn aus. Niemand fragte nach einem Ausweis. Wer außer einem Verwandten würde schon eine Frau wie Mrs. Asher besuchen? Sie war jemand ohne Vergangenheit und ohne Zukunft.
    Al fand sie aufrecht in ihrem Bett sitzend, in einem kleinen, spärlich eingerichteten Zimmer. Sie trug ein glänzendes rotes Hauskleid mit Schulterpolstern. Die ganze Zeit über hielt Mrs. Asher ihn für ihren Mann, obwohl der schon fünfzehn Jahre tot war. Al versuchte, mit ihr über Lucy zu sprechen, in der Hoffnung, daß irgendein verschüttetes Detail an die Oberfläche ihres Bewußtseins gespült würde. Doch seine Fragen regten sie nur auf. Sie redete dauernd dazwischen, von einem losen Metallstück auf dem Dach, das im Wind klapperte und sie nicht schlafen ließ. Ihre dünne Stimme stieg und sank wie der vermutlich eingebildete Wind, der sie störte. Er müsse aufs Dach steigen und das reparieren, wiederholte sie immer wieder. Al versprach ihr schließlich, sich sofort darum zu kümmern. Das beruhigte sie, und Al erfand eine Ausrede, um gehen zu können.
    Aber an dem Tag, als wir in Calbourne Courts mit ihr sprachen, hatte Mrs. Asher noch lichte Momente. Das Gespräch war uns so wichtig, daß alle daran teilnahmen. Mrs. Asher erkannte Tug Gardiner sofort und fragte ihn, wie es seinem Vater, ihrem ehemaligen Nachbarn, ginge. »Und gibt es das Milchgeschäft noch?«
    Tug wußte nicht recht, was er antworten sollte, entschied sich aber schließlich für die Wahrheit: »Es ist vor acht oder neun Jahren geschlossen worden. Zuviel Konkurrenz durch die Supermärkte, nehme ich an. Die neuen Besitzer haben den Laden wieder zu Wohnräumen zurückgebaut.«
    Mrs. Asher fixierte Tug unter ihren geschwollenen Lidern.
    »Ich habe den Laden sowieso immer gehaßt«, sagte sie. Und nach einer Pause: »Karotten sind schwer zu schälen.« Sie hielt ihre Hände hoch, damit wir die geschwollenen

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