Rocking Horse Road (German Edition)
Knöchel und gekrümmten Finger sehen konnten. Ob ihre Hände nun der Beweis oder der Grund für die Unwilligkeit der Karotten sein sollten, war schwer zu entscheiden. Wir knabberten schweigend an unseren Keksen, während wir über diese Frage nachdachten.
Lucy, so erzählte sie uns ein paar Minuten später, war immer ein sehr eigensinniges Kind gewesen. »Schon vom ersten Moment an hat sie die Flasche verweigert. Sie hat ganz genau gewußt, was sie wollte, und so lange gebrüllt, bis sie es bekam.«
»Wenn wir sie nur besser gekannt hätten damals«, sagte Pete Marshall, und wir nickten. Es war die Wahrheit. Pete war direkt von der Arbeit gekommen und trug noch das weiße Hemd von Powerstore, dem Elektroladen, den er leitete. Sein Name war auf die Brusttasche gestickt. Wie die meisten von uns hatte Pete über die Jahre ein paar Kilo zugelegt. Sein Hemd spannte über dem Bauch, und man sah Schweißflecken unter seinen Achseln.
Es entstand eine weitere lange Pause. Calbourne Courts liegt in den westlichen Außenbezirken der Stadt, und so lauschten wir vergeblich auf den vertrauten Schrei einer Möwe. Das einzige Geräusch war das Zischen und Brummen von schweren LKWs, die auf dem feuchten Asphalt einer neuen Schnellstraße direkt hinter dem Zaun vorbeidonnerten.
Mrs. Asher schien nichts Ungewöhnliches dabei zu finden, einem halben Dutzend Männern in mittlerem Alter, die sich in ihrem kleinen Zimmer zusammendrängten, Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Aber nach einer Stunde wurde sie müde, und es entstanden immer längere Pausen. Wenn sie nicht redete, sank ihr Kopf nach vorn und fuhr dann wieder ruckhaft hoch, wobei sie uns mit großen Augen anschaute, als sähe sie uns zum ersten Mal. Jim Turner spürte, daß wir auf dem besten Wege waren, eine wichtige Gelegenheit zu verpassen, und fragte, ob sie irgend etwas über die Umstände von Lucys Tod wisse, was sie uns sagen könne. Wir beugten uns alle angespannt vor.
Mrs. Asher wurde plötzlich vorsichtig. Sie rückte in ihrem Sessel zurück und sah Jim scharf an. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, bis sie fast unter dem aufgedunsenen Fleisch ihres Gesichts verschwanden. »Sie ist gestorben«, sagte sie mit Nachdruck und schüttelte den Kopf, als hätte sich eine Fliege auf ihr Haar gesetzt. »Mein kleines Mädchen ist tot. Und damit Schluß.«
Sie erzählte noch ein paar halbe Geschichten aus der Zeit, als ihre Töchter klein waren und noch nicht zur Schule gingen. Diese Epoche schien sich in ihrem Kopf als eine Art Goldenes Zeitalter festgesetzt zu haben. Auf Lucys Ermordung wollte sie nicht angesprochen werden. Schließlich schlief sie ein. Wir standen leise auf und verließen das Zimmer.
Wir fragten uns, ob Mrs. Asher sich wohl beim Aufwachen daran erinnern würde, daß wir dagewesen waren. Vielleicht würden die zusammengedrückten Polster und der eine oder andere Krümel auf dem Sofa sie stutzig machen und nachdenken lassen. Würde sie sich dann vage an die Gruppe wißbegieriger Männer erinnern, die da in ihrem Wohnzimmer aufgetaucht war? Oder würde der Schlaf wie eine ungewöhnlich hohe Flut die Fußspuren der Erinnerungen aus ihrem Bewußtsein gewaschen haben?
Vielleicht hatte Mrs. Asher recht. Vielleicht kommt wirklich einmal die Zeit, einen Schlußstrich zu ziehen. Vielleicht sollten wir das auch tun und aufhören, nach etwas zu graben, von dem wir nicht mal wissen, was es ist, geschweige denn, wo. Es passiert gelegentlich, daß einer von uns sich gelobt, keine Nachforschungen mehr anzustellen. Wir alle hatten eine Zeit in unserem Leben, da wir uns sagten, daß wir keine schlaflose Nacht mehr mit Nachdenken oder mit erneutem Suchen in unserem Archiv verbringen sollten. Wir haben uns gegenseitig davon überzeugt, daß wir, wenn wir uns in der Gruppe auf ein oder zwei Bier treffen, darauf bestehen, kein Wort über Lucy Asher zu reden oder über irgend etwas, das mit ihr in Verbindung steht. Solche Phasen hatten wir alle. Jase Harbidge schlug sogar vor, eine Selbsthilfegruppe zu gründen: Lucy Asher Anonymous (L.A.A.) – und das nicht mal nur als Witz. Manchmal dauert unsere Abstinenz ein paar Monate. Mark Murray blieb sogar Mitte der 90er eineinhalb Jahre dabei, bis ein Artikel im Herald über einen Fall, der einige Parallelen zu Lucys aufwies, ihn in den Schoß der Familie zurückkehren ließ.
Zumeist sind diese Unterbrechungen von dem Gefühl bewirkt, es gebe keinerlei Fortschritte, in unser Leben sei Ruhe eingekehrt, doch
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