Rocking Horse Road (German Edition)
die Kugeln stießen aneinander und blieben schließlich liegen, während wir alle das Undenkbare dachten.
Wir bekamen unsere Zeugnisse am Montag der dritten Januarwoche 1981 per Post. Unsere Zensuren waren durchschnittlich, wie nicht anders zu erwarten. Wir rutschten so gerade in die 12. Klasse durch und entgingen der Schmach, die 11. wiederholen zu müssen. Einzig Al Pennys Zeugnis ragte heraus. Seine Zensuren waren so gut, daß er ungewohnt zugeknöpft reagierte, wenn man ihn danach fragte, und niemandem sein Zeugnisheft zeigte. An diesem Tag öffnete das Milchgeschäft der Ashers wieder. Wir fanden es Lucy gegenüber irgendwie pietätlos, doch entgegnete Roy Moynahan, immer der Pragmatiker unter uns: »Die Ashers müssen schließlich von irgendwas leben, oder? Wie alle anderen auch.«
Aber es reichte kaum. Das Geschäft ging schlecht. Die Leute schienen es plötzlich vorzuziehen, bis in die Bridge Street zu gehen, um in dem dortigen Laden einzukaufen. Der hatte unlängst den Besitzer gewechselt und roch nun nach Räucherstäbchen und Curry (wie im Grunde jeder kleine Lebensmittelladen heute, aber damals war dieser Geruch noch sehr exotisch und schreckte manche Leute ab). Viele unserer Mütter erledigten den gesamten Wocheneinkauf jetzt im Supermarkt in New Brighton und brauchten nichts mehr von den Ashers.
Wir jedoch wurden die besten Kunden der Ashers. Dabei ging es uns nicht darum, das voranzutreiben, was wir inzwischen als unsere Ermittlungen im Mordfall Lucy Asher ansahen. Nein, wir hatten vielmehr das Gefühl, wir müßten ihrem Geschäft auf die Beine helfen. Die Hitzewelle hielt noch immer an, also kauften wir natürlich Eis. Wir saßen in Tugs Zimmer, ließen das Fernglas rundgehen und aßen Eis. Eine Zeitlang schafften wir jeder drei bis vier Waffeln pro Tag. Dazu gaben wir unser Geld für Cola, Fanta und Mello Yello aus. Später dann waren es Wundertüten für zwanzig oder fünfzig Cent, bis uns schon beim Anblick von Eskimo-Lutschern und Orangenkaubonbons schlecht wurde. Im Laufe der Wochen wurden uns auch die Lakritzschnüre über. Wir ließen sie in Tugs Zimmer rumliegen wie die verkohlten Überreste von Nacktschnecken. Das Brausepulver kippten wir gleich tütenweise ins Klo der Gardiners.
Unsere Mütter waren zunächst überrascht, als wir jeden Tag wortlos Milchflaschen nach Hause brachten, wurden jedoch schon bald mißtrauisch. Wir tranken, soviel wir konnten, aber man schafft einfach nur ein bestimmtes Quantum Milch. Als wir es leid waren, die ständigen Fragen unserer Mütter zu beantworten, gossen wir die Milch weg. Wochenlang muß das Abwasser der Gardiners weiß gewesen sein.
Wir kauften auch Brot, doch sind da die Kapazitäten gleichfalls begrenzt. Wir warfen ganze Laibe von Brotscheiben wie Frisbees aus Tugs Fenster, damit die Möwen sie in der Luft fingen. Ende Januar hatten sich so viele Möwen am Haus versammelt, daß man kaum mehr den Himmel sehen konnte. Sie saßen überall, auf Zäunen und Dachrinnen, und warteten, während sie alles mit langen weißen Streifen verdreckten. Schließlich stürmte Mr. Gardiner die Treppe hoch und hielt uns eine Gardinenpredigt.
Wenn wir einkauften, wurden wir immer von Mrs. Asher bedient. Mrs. Asher hatte sich nie wie jemand gekleidet, der in einem Milchgeschäft arbeitet. Gewöhnlich trug sie modische schwarze Kleider und Röcke und silberne Armbänder. Wie Lucy hatte sie lange Haare – sogar mit demselben Schimmer –, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Mrs. Asher machte sich zurecht, als käme sie direkt aus einer Geschäftsbesprechung bei dem Eisproduzenten, um unsere Waffeln zu füllen.
Wir wußten, daß unsere Mütter häufig über Mrs. Asher tratschten und sie »überheblich« nannten. Wenn man an der Rocking Horse Road nur einen kleinen Schritt über die genau definierten Grenzen des »Schicklichen« wagte, machte man sich geradezu einer Sünde schuldig.
Die Trauer hatte Mrs. Asher schmal werden lassen. Ihre Wangen waren eingefallen, und die Gesichtsknochen traten unter der Haut hervor wie ein Gerüst. Sie war schon immer schlank gewesen, doch Lucys Tod hatte sie so abmagern lassen, daß ihre Schultern wie Kleiderbügel wirkten. Ihre Augen schienen in ihren Höhlen zu schwimmen, wenn sie uns von der anderen Seite der immer staubiger werdenden Glastheke anschaute; die Süßigkeiten unter dem Glas lagen da wie Dinge in einem vergessenen Museum. Die großen Schaufensterscheiben waren von innen fast ganz mit Werbung für Dinge wie
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