Rocking Horse Road (German Edition)
Überwachungsturm am Strand – das war neu. Niemand hatte erwähnt, daß Lucy die Party verlassen hatte. Es war uns zwar zuwider, daß er so über sie redete, aber wir wollten wissen, was sich abgespielt hatte. Anton Lester verstand unser Interesse völlig falsch. Er setzte ein breites Grinsen auf und tippte sich mit einem Finger, der vom Bowlen mit dem neuen Ball rotgefärbt war, gegen die Nase. (Diese Geste hatte er offenbar von jemand Älterem abgeschaut, das bestätigte unseren Eindruck, daß er ein dämlicher Angeber war.) »Eine Weile lief es gut, dann sagte sie, ihr wäre nicht danach oder irgend so einen Scheiß, und sie wollte wieder reingehen. Ich war stinksauer, aber es war egal, ein paar Stunden später habe ich dann das White-Mädel im Schlauchboot flachgelegt.«
Und wo ging Lucy danach hin? Lester meinte, sie sei in den Surfclub zurückgegangen, Licht und Musik müßten noch auf den Strand geschwappt sein. Aber niemand sonst, mit dem wir sprachen, erinnerte sich, Lucy später in dieser Nacht gesehen zu haben. Aber das mußte nicht viel bedeuten. Zu dem Zeitpunkt hatte Tonys Wodka seine Wirkung getan. Ein prickelnder Zauber war über die Leute auf der Party hereingebrochen, und zu behaupten, ihre Erinnerungen seien ungenau, wäre die Untertreibung des Jahres. Die Polizei kam zu dem Schluß, daß Lucy die Party zwischen elf und zwölf Uhr verlassen hatte, und zwar allein. Wir haben nie etwas anderes beweisen können.
Die letzten, die Lucy zuverlässig gesehen haben, waren Karen Wishart und Phil Foster (Transkription von Exponat T63).
Karen: Phil war mit dem Auto zur Party gefahren und wollte mich gerade zu Hause absetzen.
Phil: Ich war vermutlich ein bißchen zu betrunken, um noch zu fahren, aber es gibt ja keine Kurven hier. [Anmerkung: Das war ein Running Gag auf The Spit.]
Karen: Es muß etwa zwei Uhr gewesen sein. Phil: So in etwa.
Karen: Wie wir schon der Polizei erzählt haben, parkten wir vor dem Haus meiner Eltern.
Phil: Sagten uns nur noch gute Nacht.
Karen: Ja. Wir sahen Lucy im Licht einer Straßenlaterne ein Stück die Straße hoch.
Phil: Sie muß aus den Dünen gekommen sein. Karen: Sie hatte die Schuhe ausgezogen.
Phil: Trug sie in der Hand.
Karen: Für mich sah sie aus, als hätte sie geweint. Phil: Wie konntest du das sehen? Es war stockdunkel. Karen: Für mich sah es jedenfalls so aus.
Phil: Na gut.
Karen: Dann drehte sie sich um und ging weg. Ich fand, daß sie traurig aussah.
Phil: War’s das jetzt?
Al Penny war es, der uns auf das Offensichtliche aufmerksam machte: »Karen Wishart wohnt in Nummer dreiundsechzig. Wenn Lucy also vom Surfclub losgegangen war und bei Karens Haus aus den Dünen kam, dann war sie bereits am Milchgeschäft vorbeigegangen. Und Karen sagt, sie drehte sich um und ging weg. Nach Süden. Wäre sie nach Hause unterwegs gewesen, hätte sie direkt an ihnen vorbeigehen müssen.«
Wohin also ging Lucy? Die Protokolle der Polizei, die wir haben, enthalten separate Vernehmungen von Karen und Phil, aber die Hypothese schien zu sein, daß sie Lucy auf dem Weg nach Hause sahen. Ohne andere Möglichkeiten direkt auszuschließen, hat die Polizei stets unter der Prämisse gearbeitet, daß Lucy ihrem Mörder irgendwo zwischen dem Surfclub und ihrem Haus begegnet ist und dann irgendwie zum Kanal gebracht wurde. Wir zweifeln inzwischen daran, daß es so war.
In all den Jahren haben wir oft an der Stelle auf dem Gehweg gestanden, wo Lucy zum letzten Mal gesehen wurde. Wir gehen allein oder zu zweit hin, manchmal tagsüber, doch meistens spätabends, wenn die Straßenlaternen brennen. Das Haus der Familie Wishart ist vor einiger Zeit abgerissen und durch drei kleine Reihenhäuser ersetzt worden. Ansonsten sieht alles noch ziemlich genau so aus wie in der Nacht, als Lucy barfuß dort stand. Der Weg aus den Dünen verläuft noch immer zwischen zwei Bauabschnitten. Er ist nur etwa zwei Meter breit und war 1980 noch nicht ausgeschildert. Noch immer ist er nicht leicht zu finden, von beiden Enden aus, besonders weil der Sand durch die Flut und den Wind umgeschichtet wird. Auch heute noch wird dieser Weg kaum benutzt, nur die Anwohner und ein paar Surfer kennen ihn. Lucy wußte natürlich, daß es ihn gab, aber es muß trotzdem schwierig gewesen sein, ihn im Dunkeln zu finden, besonders vom Strand aus. Deshalb glauben wir, daß sie ihn gesucht hat und ein ganz bestimmtes Ziel hatte.
An warmen Abenden stehen wir manchmal dort, in diesem Abschnitt der Rocking Horse Road,
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