Rocking Horse Road (German Edition)
Abend, als Carolyn Asher zum ersten Mal kam. Sie stieg von ihrem Fahrrad, lehnte es gegen die dürre Thujahecke und ging so selbstverständlich auf das Haus zu, als täte sie das jeden Tag. »Ich war in der Garage, und sie kam einfach auf mich zu und fragte, ob sie ein bißchen mit mir rumfahren könnte. Ja, ich habe gewußt, wer sie war. Und was mit ihrer Schwester passiert war.«
Wir fragten uns, ob er wohl mehr als das gewußt hatte, ob er die Geschichten über Carolyn kannte. Doch wir waren gnädig: im Zweifel für den Angeklagten. Wir stellten uns vor, wie sie sich an ihm festhielt, wie sich ihr langer, hagerer Körper gegen seinen Rücken preßte, sie über seine Schulter sah und sich mit ihm in die Kurven legte. Die Nachtluft schlug ihnen ins Gesicht. Wohin fuhren sie? Was taten sie, als sie dort ankamen? Sogar Jahre später wollte uns Steve Weldon dazu nichts sagen. Er sagte nur, sie hätten viel geredet, aber das sei ihre Sache.
Von da ab tauchte Carolyn Asher fast täglich beim Haus der Weldons auf, immer dann, wenn Mrs. Weldon putzen war und sie selbst eigentlich in der Schule hätte sein müssen. Sie hatte schon reichlich viel Unterricht versäumt in diesem Jahr, wogegen weder die Schule noch ihre Familie etwas zu unternehmen schienen (okay, auch wir schwänzten ...). Steve erzählte uns, sie seien »in einer für uns beide schwierigen Phase gute Freunde gewesen«.
Am interessantesten an Steves Erzählungen fanden wir, daß er Carolyn mal dabei erwischt hatte, wie sie in seinem Zimmer in seinen Sachen rumschnüffelte. Er fragte sie, wonach sie suchte, aber sie gab keine Antwort. Zu der Zeit, als wir mit Steve redeten, kannten wir die Antwort natürlich längst. Sogar als sie zum ersten Mal zu ihm kam, weckte das bereits einen Verdacht in uns. Carolyn war auf Spurensuche. Sie suchte nach dem Brief oder dem gestohlenen Ring oder der Haarlocke. Nach irgend etwas, das eine Verbindung zwischen Steve und ihrer toten Schwester bewies.
Uns war klar, daß Carolyn ihre eigene Liste hatte, die sie abarbeitete. Ihre und unsere Listen überschnitten sich teilweise. Wir beneideten sie um ihre direkte Vorgehensweise, die Lässigkeit, mit der sie ins Leben dieser Jungen trat und sich die Informationen nahm, die sie brauchte. Wir hingegen mußten uns im Hintergrund rumdrücken, bewaffnet mit Fernglas und Kamera. Wir zogen Schlußfolgerungen und verarbeiteten sie zu Theorien, machten verwackelte Fotos und durchwühlten nachts im Schein von Taschenlampen Mülltonnen.
Aber Carolyns Detektivarbeit forderte ihren Tribut. Anfang April sah sie permanent übermüdet aus, die Haut ihrer Stirn war fast durchsichtig geworden, und die blauen Äderchen darunter traten deutlich hervor. Wir machten uns Gedanken, ob sie überhaupt aß. Ihr Lebenswandel ließ darauf schließen, daß sie kaum schlief. Es war, als bewegte sie sich mit bleierner Eleganz zu ihrer eigenen langsamen Musik. Als sie auf ihrer Liste bei Steve Weldon angekommen war, strahlte sie längst nicht mehr die Intensität aus, die uns bei Lucys Beerdigung so beeindruckt hatte. Sie wirkte geistesabwesend, wie eine Schlafwandlerin.
»Caro war ziemlich im Arsch damals«, sagte Steve. »Aber ich habe mich trotzdem in sie verknallt.« Damit war das Gespräch zu Ende. »Viel Glück! Ich hoffe, ihr findet, was ihr sucht.«
Anfang Mai sah man Carolyn nicht mehr bei Steve. Da hatten wir ihr Schema schon verstanden. Wie wir auch, hatte Carolyn Steve Weldon von ihrer Liste der Verdächtigen gestrichen. Steve versuchte sie wiederzusehen, doch sie machte unmißverständlich klar, daß es vorbei war.
Im Mai hatten wir bereits fast ein Dutzend Berichte über Beobachtungen von Mr. Asher bei Nacht entweder am Strand oder in den Dünen. Das Hämmern und Sägen in seiner Garage ging Nacht für Nacht weiter, also schien auch er sich nicht mehr mit Schlafen abzugeben. Manchmal tauchte er plötzlich im Licht von Autoscheinwerfern auf, ging mitten auf der Straße – wie ein wildes Tier bei einer nächtlichen Safari –, das Gesicht wandte sich dem herannahenden Auto zu, die Augen blitzten hell, bevor die ganze Erscheinung wieder in der Dunkelheit versank. Wenn er auf dem Weg zum Strand war, trug er fast immer ein großes Bündel. Wir hatten noch immer keine Ahnung, wie sich dieses Baby in unser Puzzle einfügen lassen könnte.
Mrs. Asher arbeitete nach wie vor in ihrem Milchgeschäft. In dieser Zeit ging schon praktisch niemand mehr in den Laden, und man spekulierte seit längerem
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