Roemisches Roulette
meinem Tisch. Seit Nick und ich es abgenommen hatten, war es ganz hinten im Schrank verstaut gewesen. Ein paar Mal wollte ich es sogar in die Mülltonne werfen. Genauso, wie ich den schrecklichen Fehler in Rom im Mülleimer meiner Erinnerungen entsorgte. Doch nun war es wieder da; die rote Farbe des Frauenportraits sah aus wie Blut.
“Kit?” Ihr Name hing bedrohlich in der Luft. Mir wurde schwindelig vor Angst. Hatte sie das Bild aufgehängt? War sie immer noch hier?
“Was willst du?”, fragte ich. Sprach ich tatsächlich mit der Luft? War ich verrückt? Und warum hatte ich nicht die verfluchten Schlösser austauschen lassen? Aber ich wusste, dass es egal gewesen wäre. Es gab ja noch die Fenster. Und vor allem gab es Kit, die nie aufgab bevor sie erreichte, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte.
Das Gemälde an der Wand schien zu pulsieren.
Vorsicht
, schien es zu sagen.
Ich werde es nie vergessen. Du wirst niemals in Sicherheit sein.
“Kit!”, schrie ich. Wieder echote ihr Name durch den Raum.
Vielleicht versteckte sie sich im Schrank. Vielleicht wartete sie oben im Schlafzimmer auf mich. Mein Atem ging so flach, dass ich nach Luft schnappen musste.
Ein letztes Mal sah ich zu dem Bild, dann raste ich die Stufen hinauf. Meine Augen suchten die Küche ab, die Anrichtekammer, den Flur, das Badezimmer. Kit konnte überall sein.
Ich schnappte mir meine Handtasche von der Küchenarbeitsplatte und lief durch die Haustür hinaus. Aufs Abschließen verwendete ich keine Zeit. Wozu auch? Kit würde ohnehin einen Weg finden.
Ich rannte die mit herbstlichen Blättern übersäte Straße hinunter und hielt erst an, als ich das Café an der Ecke erreicht hatte. Drinnen bestellte ich einen beruhigenden Tee und betete, er möge helfen. Mit zitternden Händen löffelte ich Honig in die Tasse. Beim ersten Schluck verbrannte ich mir die Lippen. Und erst nachdem ich dreimal den Platz gewechselt hatte und im hinteren Teil des Cafés mit dem Rücken zur Wand saß, fühlte ich mich sicher. Schließlich rief ich Nick an und hinterließ ihm eine Nachricht, dass er mich nach seiner OP hier abholen sollte.
Eine Stunde lang saß ich herum, ohne die Tür aus den Augen zu lassen. Meine Gedanken wanderten zu einem Tag im letzten Jahr, als Kit und ich gemeinsam zu Mittag aßen. Sie war gerade aus L.A. zurückgekehrt. Ich war glücklich, sie endlich wiederzuhaben, und wollte ihr etwas Gutes tun. Also lud ich sie in das noble Bistro 110 ein, wo wir von einem Fensterplatz aus die Menschenmassen beobachteten, die zur Michigan Avenue, der Shoppingmeile schlechthin, pilgerten. Ein paar schöne Stunden, in denen wir einander Geschichten erzählten, die wegen der großen Entfernung auf der Strecke geblieben waren. Am Telefon erzählte es sich einfach nicht so gut. Während wir das Dessert aßen, machte eine Blondine vor dem Fenster Halt und kramte in ihrer Tasche. Sie holte ihr Handy heraus und nahm einen Anruf entgegen. Einige Minuten lang telefonierte sie direkt vor unserer Nase.
Sogleich begann Kit mit ihrem Lieblingsspiel: die Lebensumstände fremder Leute zu erraten. “Sie ist über vierzig, obwohl sie wie dreißig aussieht”, sagte sie und sah sich die Frau genau an. “Sie ist zum zweiten Mal verheiratet, aber unglücklich in der zweiten Ehe.”
“Woher weißt du das?”, fragte ich.
“Sieh dir ihren Ring an. Der ist riesig. So einen Klunker sucht man sich nicht für die erste Ehe aus. Sie hat den Anruf sehr schnell angenommen. Es ist ein Mann. Jemand, mit dem sie ein Verhältnis hat.”
Tatsächlich lag ein sexy Lächeln auf den Lippen der Frau. Dann bedeckte sie die Augen kurz mit der freien Hand – eine Geste der Verlegenheit.
“Vielleicht kokettiert sie ja auch mit ihrem Ehemann”, warf ich ein.
Kit grinste wissend. “Nein. Es ist ihr Lover. Reich und älter. Sie hofft, dass er Ehemann Nummer 3 wird.” Kit schüttelte den Kopf. “Sie verdient ihn nicht.”
“Was?” Ich lachte und gab ihr einen scherzhaften Klaps auf den Arm. “Du kannst doch nicht wissen, ob sie irgendetwas verdient oder nicht.”
Sie sah mich an. Ihr Gesicht war ausdruckslos. “Warum denn nicht? Meinst du vielleicht,
ich
hätte es nicht verdient einen Mann zu finden, mit ihm ein schönes Zuhause aufzubauen und einen Ring wie diesen am Finger zu tragen?”
“Doch, natürlich.”
“Dann denkst du also auch, dass einige Menschen ihr Glück verdienen und andere nicht.”
“Nein, ich finde, jeder hat ein glückliches Leben
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