Roemisches Roulette
ist denn passiert?”, erkundigte sich Nick. Sein Schlüsselbund klimperte, als er es auf dem Tisch ablegte.
“Laurence Connelly hat mich heute gefeuert”, sagte ich.
Nick ging ums Sofa herum und kniete sich vor mich. “Wieso?”
“Er hat meine schlechten Verkaufszahlen vorgeschoben, aber in Wahrheit war es wegen der Sun-Times, die heute im Büro angerufen hat. Er meinte, die Firma könne sich keine schlechte Publicity erlauben.” Ich sah Nick offen ins Gesicht. Die Sommersprossen wirkten in seinem von der Novemberkälte blassen Gesicht dunkler als sonst. Vermutlich war er von der Klinik zu Fuß nach Hause gegangen. Das tat er gerne. Hatte sich sein Leben seit Dienstag auch so sehr verändert wie das meine? Anscheinend nicht.
“Das ist ja nicht zu fassen!”, erwiderte Nick wütend.
War er so zornig wegen meiner Entlassung oder weil die Sun-Times bei meinem Arbeitgeber angerufen hatte? Noch mehr schlechte Publicity für uns, an der sich der Ausschuss würde weiden können.
“Das kann er doch nicht machen”, fuhr Nick fort. “Du bist seine beste Verkäuferin. Wir werden ihn verklagen.”
“Damit habe ich ihm auch gedroht, aber wir müssen der Wahrheit ins Gesicht sehen, Nick. Das würde nur noch mehr Untersuchungen nach sich ziehen. Und die Presse würde davon mit Sicherheit auch Wind bekommen.”
“Das ist mir egal. Das können die nicht mit dir machen.”
“Du wolltest doch eh, dass ich aufhöre.”
“Aber erst, wenn
du
es gewollt hättest. Das hier ist lächerlich. Das mit der Klage ist mir ernst. Sollen wir Tom anrufen?”
Seine Miene war so entschlossen, und er schien um meinetwillen so wütend, dass einige meiner vorherigen Zweifel dahinschmolzen.
“Nein”, erwiderte ich. “Komm her.” Ich zog ihn aufs Sofa und vergrub das Gesicht an seiner Brust.
Er nahm mich fest in den Arm. “Ach, Rachel. Es tut mir ja so leid.”
“Schon gut. Wir schaffen das schon. Nicht wahr?”
Zögerte er für den Bruchteil einer Sekunde?
“Sicher”, antwortete er.
Die nächsten Tage verstrichen einer wie der andere. Ich hatte nie geglaubt, dass das Leben so sein könnte – ein einziger lang gezogener Moment, den ich damit verbrachte, im Appartement auf und abzugehen, den Blick auf den Balkon zu vermeiden und mich zu fragen, was andere, was normale Leute taten, wenn sie nicht arbeiteten. Was taten sie, wenn sie deprimiert waren; wenn sie jemanden verloren, ja einen Teil ihres Lebens verloren hatten? Wenn sie nicht wussten, ob sie Mörder waren, oder ihr Ehemann, beide gemeinsam oder keiner von beiden.
Wenn Nick abends nach Hause kam, schien ihn mein Anblick zu erschrecken.
“Was ist mit dir?”, fragte er eines Abends, als er den gelben Baumwollschlafanzug bemerkte, den ich trug, seit er am Morgen in die Klinik gefahren war.
Er hängte seinen Kaschmirmantel in den Garderobenschrank im Flur und lockerte seine gelbe Krawatte. Ich starrte auf das gelbe Ding und dachte, dass sie für einen Kliniktag im November unangemessen war. Auf eine Hochzeit im Mai hätte sie besser gepasst.
Ich sank aufs Sofa. Irgendwo in meinem Hinterkopf – dem vernünftigen Teil – wusste ich, dass ich mich seltsam benahm. Wie eine Depressionskranke. Dass ich mich von dem mir vertrauten Ich, mit dem ich mich wohl gefühlt hatte, weit entfernt hatte.
Dann schoss mir ein gruseliger Gedanke durchs Hirn. Womöglich hatte ich mich schon so weit von meinem Selbst entfernt – zumindest geistig –, dass es kein Zurück mehr gab. Vielleicht war dies mein neues Ich: Dieses Wesen, das sich in einer Wohnung verkroch und von der Erinnerung an eine tote Freundin umgetrieben wurde.
“Rachel.” Nick sagte nur meinen Namen. Sehr entschieden. Kein weiteres Wort.
Wir sahen einander quer über den glänzenden Parkettfußboden an.
“Warst du heute schon draußen?”, fragte er dann.
“Wohin sollte ich schon gehen?”
Er seufzte tief. Es war Freitag, und Gespräche wie dieses führten wir seit einiger Zeit jeden Abend. “Einen Kaffee trinken. Nach einem anderen Job Ausschau halten, wenn du das möchtest. Die Buchhandlung durchstöbern. Freunde treffen.”
“Freunde?” Meine Stimme klang krächzend. Ich hatte seit zwölf Stunden mit niemandem gesprochen. “Nick, wir haben keine Freunde.”
Während der vergangenen Jahre hatten sich die meisten unserer Kumpels aus Schulzeiten oder aus frühen Berufstagen in ihr eigenes Leben geflüchtet – mit Häusern in den Vororten und Kindern. Ich hatte immer Kontakt zu Kit gehabt, trotz
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