Roen Orm 3: Kinder des Zwielichts (German Edition)
Mitleid in Fin Marlas Blick zerstörte Thamars Seele, es war unerträglich, die beiden so zu sehen. Was war es nur, was Maondny tun musste? Er streckte die Hand aus, unsicher, ob er in diesem Traum – denn ein Traum musste es sein – überhaupt nach ihr greifen konnte. Kaum berührten seine zögernden Finger ihre Schultern, da fuhr sie herum, ihre blauen Augen suchten nach ihm.
„Was ist?“, fragte Fin Marla besorgt. Erst jetzt bemerkte Thamar, dass beide sich in ihrer eigenen Sprache unterhielten, die er für gewöhnlich nicht verstehen konnte.
„Schon gut, Mutter, nur ein Windhauch.“ Der vertraute goldene Schimmer legte sich über Maondnys Augen, sie lächelte traumverloren in Thamars Richtung. „Wach auf, Liebster, du darfst mich nicht begleiten. Dieser Tag ist noch in weiter Ferne. Dass du mich hier gefunden hast, ist ein gutes Zeichen. Die vielfältigen Möglichkeiten versickern, die Zukunft wird zu einem einzigen starken Strom. Noch immer aber kann vieles, das wichtig und wertvoll ist, verloren gehen. Kehr um, Thamar. Verzweifle nicht. Es ist weniger entsetzlich, als es aussehen mag.“
Für einen winzigen Moment lang glaubte er, ihre Lippen auf den seinen zu spüren, ein zarter Kuss. Dann verschwamm ihre schöne Gestalt.
„Wach auf, mein Freund!“ Starke Hände schüttelten ihn durch. Thamar fuhr hoch. Verwirrt starrte er in Ronlads besorgtes Gesicht. Er lag auf dem Boden, überall um ihn herum waren Pergamente und Schriftrollen verstreut.
Sein gesamter Körper schmerzte, er fühlte sich seltsam – als wäre seine Seele gewaltsam von seinem Leib gerissen und mit noch mehr Gewalt zurückgetrieben worden.
„Endlich! Du hast mich erschreckt!“ Der alte Priester setzte sich aufatmend zurück auf die Fersen. „Du hast wie tot dagelegen, als ich hereinkam, doch kaum, dass ich dich berührte, hast du angefangen um dich zu schlagen. Was ist geschehen?“
Thamar schüttelte nur den Kopf. War es ein Traum gewesen, oder tatsächlich eine Vision, ein Blick in die Zukunft? Er hatte dem Priester vieles anvertraut in den vergangenen Wochen, seine Liebe zu Maondny allerdings, und das wahre Ausmaß ihrer Macht, hatte er geheim gehalten. Es gab Geheimnisse, die besser nicht geteilt wurden.
„Ich habe die Übersetzung beendet“, flüsterte er, erstaunt, wie schwach er sich auch körperlich fühlte. Als wäre er tatsächlich durch einen Wildwasserstrudel geschwommen, hinein in die Zukunft, und wieder zurück.
„Bist du nun bereit, mir davon zu erzählen?“ Bis jetzt hatte Thamar kein Wort mehr von dem verraten, was in den Pergamenten stand. Ronlad beobachtete ihn aufmerksam. Thamar wusste, er war weder verpflichtet sein Wissen weiterzugeben, noch würde der Priester es von ihm einfordern. Sinnend betrachtete er den alten Mann, der ihm zum Mentor, ja, zum Freund geworden war. Würde er den Seelenfrieden des Priesters vernichten? Es war nicht gewiss, dass alles in diesen Aufzeichnungen der Wahrheit entsprach.
„Ronlad, deine Meister, waren sie – verändert? Nachdem sie mit dem Fremden gesprochen hatten, waren sie danach andere Menschen?“, fragte er zögernd.
Ronlad lächelte wissend.
„Eine Weile lang, ja. Ich hörte sie flüstern, von Zweifeln und Angst. Wir Novizen und auch die jüngeren Geweihten haben sie abwechselnd belauscht, aus Angst, der Tempel würde geschlossen und wir alle fortgeschickt werden. Nach einigen Wochen kehrte Normalität zurück, und schließlich verschwanden die Zweifel aus dem Blick und den Gedanken aller, die mit dem Fremden zu tun gehabt haben.“
„Und derjenige, der die Sprache des Fremden verstanden hatte?“
„Er suchte den Tod.“
Erschrocken fuhr Thamar zusammen, wollte aufspringen, um die Pergamente zu packen und sie zu vernichten. Doch Ronlad hielt ihn zurück.
„Es ist allein deine Entscheidung. Ich weiß, du trägst nun schwer an der Bürde dessen, was auch immer die Aufzeichnungen enthüllt haben. Ist es besser für dich, die Last zu teilen, oder willst du lieber vergessen? Hilft dir das, was du dort gefunden hast, bei deiner Suche?“
„Es hilft mir, und für mich ist es ... verstörend, aber kein Schrecken, was hier geschrieben steht. Ich war mir schon vorher sicher, dass die Götter nicht aus Sanftmut oder Liebe handeln, wenn sie beschließen, in das Leben der Sterblichen einzugreifen.“ Thamar wusste, dass er den Priester damit nicht täuschen konnte. Seine Stimme zitterte zu stark, sein ganzer Körper bebte so sehr, dass er die Pergamente kaum halten
Weitere Kostenlose Bücher