Röslein rot
wühlte in ihrer häßlichen weißen Lackledertasche, »ich habe dir Fotos mitgebracht. Es ist ja heutzutage nicht mehr teuer, ein Bild vom Bild machen zu lassen.«
Ich liebe Fotos, besonders die alten bräunlichen und vergilbten mit gezacktem Rand, die man in geerbten Pralinenschachteln finden kann. Mir gänzlich unbekannte Familienfotos wurden auf dem klebrigen Tisch ausgebreitet - meine Großeltern im Urlaub auf dem Brocken; mein barfüßiger Vater in der Badehose mit einem Spaten nebst seiner kleinen Tochter Ellen und einem Rottweiler; Ellens Mutter im Hochzeitskleid; längst verstorbene Großonkel und -tanten. Natürlich war ich entzückt und sehr dankbar. Ich vergaß sogar die Perle und ließ mir erzählen, was es mit den einzelnen Personen auf sich hatte.
»Schade«, sagte ich, »daß man heute nur noch selten Gruppenaufnahmen macht. Wahrscheinlich, weil Fotografieren etwas so Alltägliches ist, daß man es in entscheidenden Momenten ganz vergißt. Auch weil die heutigen Familien geschrumpft sind und selten gemeinsam Feste feiern. Es gibt zum Beispiel kein einziges Bild, auf dem wir beide mit unserem Vater zu sehen sind.«
»Unwiederbringlich«, sagte Ellen sentimental.
Dieses Wort erweckte meinen Widerspruch. Wenn man ein »Bild vom Bild« machen konnte, warum dann nicht eine Fotomontage?
Das sei nicht so einfach, behauptete sie. Aber was ich von der Idee hielte, ein Gruppenbild zu malen? Mir seien doch prächtige Hinterglasbilder gelungen, vielleicht könnte ich versuchen, lebende und verstorbene Familienmitglieder auf einem sommerlichen Gartenbild zu vereinen?
Ich starrte sie mit offenem Mund an. Wie eine Vision sah ich ein Gemälde vor mir, auf dem je zwei Großmütter und Großväter in leichten Korbsesseln saßen, umgeben von diversen Onkeln und Tanten, Ellens und meiner Mutter, unserem Vater, uns selbst, meinem verstorbenen kleinen Bruder Malte, Reinhard und unseren Kindern. Der Einfall meiner Schwester war genial.
Als Reinhard spät und erschöpft beim Abendessen saß, erzählte ich von Ellen und schob ihm beiläufig den wieder zugeklebten Briefumschlag hin. Natürlich beobachtete ich ihn ebenso scharf wie unauffällig.
Reinhard schaufelte sich den Rest der angebratenen Nudeln in den Mund, hörte mir nicht unfreundlich zu, sagte, es werde Regen geben, und öffnete schließlich den Brief ohne jegliche Wißbegier. Die Perle kullerte über den Tisch. »Was ist das?« fragte er.
»Zeig mal!« sagte ich unschuldig und betrachtete die Perle, als hielte ich sie zum ersten Mal in der Hand.
Reinhard stieß einen kurzen Pfiff aus und meinte: »Dieser aufdringliche Junge! Ich dachte, Lara hätte ihm die Leviten gelesen.«
»Nein«, widersprach ich, »dieses Geschenk ist eindeutig für dich. Sieh doch mal, was auf dem Umschlag steht.«
Reinhard las, drehte und wendete den Brief hin und her und sagte: »Versteh' ich nicht.«
Nun war meine Stunde gekommen, um ihm die Hölle heiß zu machen. Wie bei allen hochnotpeinlichen Verhören bestritt er seine Schuld und behauptete, nicht er sei ein geiler Bock, sondern ich eine dumme Ziege. Er wurde so böse, daß er »Heiland Sakrament!« rief und die Perle in den Mülleimer warf, aus dem ich sie später wieder herausfischte.
Da mich sein Zorn an meiner Theorie zweifeln ließ, stellte ich eine neue auf: Ein ehrlicher Finder habe Reinhards versehentlich verlorene Perle wieder zurückgegeben.
Diese Version hielt er für gänzlich abwegig. Er trage doch keine Perlen in der Hosentasche, die er wie ein Märchenprinz herumstreue! In seinem ganzen Leben habe er noch nie eine besessen. »Bis auf Gülsun«, fügte er scherzhaft hinzu; das war die Frau, die sein Büro saubermachte.
»Es hätte mich brennend interessiert, was du von deiner Schwester hältst, statt dessen muß ich mir völlig haltlose Verdächtigungen anhören. Eine halbe Ewigkeit hast du Ellen nicht getroffen, ja du kennst sie eigentlich kaum, aber in deinem Kopf geistern nichts als Rosen, Herzen und Perlen herum. Manchmal glaube ich fast, du hast dir das alles bloß ausgedacht, um Terror zu machen.« Er beschloß jedoch, sich in der Nacht zum Montag auf die Lauer zu legen und den Täter in flagranti zu erwischen. »Und wenn ich die ganze Nacht aufbleiben muß«, sagte er, und seine hohe Stimme überschlug sich.
Diese Worte bewiesen immerhin, daß er mich nicht für übergeschnappt hielt.
Schließlich lagen wir im Bett, er schlief und schnarchte, ich weinte ein wenig und träumte schließlich von
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