Röslein rot
dem Weg zur Arbeit eingeworfen haben. Ich zögerte nur sekundenlang, dann hatte ich den Brief auch ohne Wasserdampf geöffnet. Das Teenager-Briefpapier war lindgrün und mit rosa Röschen bedruckt.
Mein geliebter Perlenprinz,
seit heute nacht bin ich der glücklichste Mensch der Welt. Ich weiß, daß Du Angst vor der Tiefe Deines großen Gefühls hast und mich aus Rücksichtnahme nicht damit überfordern willst. Aber glaube mir, ich bin die einzige, die Dich wahrhaft versteht und Dir helfen kann. In Deinem Blick habe ich Deine Verletzlichkeit erkannt. Bis zum heutigen Tag warst Du unendlich einsam, nun wird alles gut.
Mit tausend Grüßen von der kleinen Biene an ihren petit prince.
Wenn es nicht irgendwie traurig gewesen wäre, hätte ich gelacht. Reinhard - ein verletzlicher, einsamer Märchenprinz? Gott sei Dank war er ein durch und durch praktischer und realitätsbezogener Mann, sozusagen aus Eichenholz geschnitzt. Aber Imke machte mir Sorgen, sie war keine Nebenbuhlerin, der man die Augen auskratzen will, sondern trotz ihrer einundzwanzig Jahre ein armes Kind. Man mußte ganz behutsam vorgehen, um ihr nicht weh zu tun; andererseits sollte sie die Sinnlosigkeit ihrer fehlgeleiteten Gefühle einsehen. »Such dir einen netten jungen Mann, der zu dir paßt«, wollte ich sagen. »Reinhard ist doppelt so alt wie du, verheiratet und hat zwei Kinder. Du vergeudest deine besten Jahre...«
Als Jost seinen Freund Kai besuchen wollte, erbot ich mich, ihn hinzufahren. Ich mußte mit einer mitfühlenden Seele reden. Vor Silvia wollte ich mir keine Blöße geben, aber vielleicht hatte Lucie ein offenes Ohr? Auch Lara saß plötzlich neben mir im Auto, weil Kais Meerschwein Junge bekommen hatte.
Natürlich wußte ich, daß es angesichts der neugeborenen Nager wieder zu einer heftigen Diskussion kommen würde. »Mama, laß dich doch endlich, wie heißt es noch?«
»Desensibilisieren«, sagte ich jedesmal.
Lucie hörte mir aufmerksam zu und rief Gottfried an, der in einem Verlag arbeitet. Nachdem er ihr erklärt hatte, wo welches Buch zu finden war, ging sie mit mir in sein Arbeitszimmer, in dem die Fachliteratur stand. Bei der psychologischen Abteilung wurde sie fündig. Studien zu einer störungsspezifischen klientenzentrierten Psychotherapie, las sie vor und begann zu blättern. »Hier schreiben die Autoren Binder und Binder: >Beim Liebeswahn weiß die Kranke um die Richtigkeit dieser Liebe, und zwar völlig unabhängig davon, ob der ausgesuchte Partner offensichtlich anderweitig gebunden ist, ob er regelmäßig den Telefonhörer auflegt oder sämtliche Briefe ungeöffnet zurückschickt.. .<«
Es war also keine mädchenhafte Schwärmerei, sondern eine Krankheit, wie ich bereits mitten in der Nacht vermutet hatte. »Lucie, was sollen wir tun?«
Sie überlegte. »Man muß konsequent bleiben, denke ich, alles andere bestätigt sie ja nur in ihrem Wahn. Wie heißt das Kind?«
»Imke, aber das Kind ist längst volljährig und eigentlich ganz hübsch.«
Lucie zögerte ein wenig. Sie werde mit Gottfried sprechen, der sich auf psychiatrischem Gebiet recht gut auskenne. Außer Theologie und Medizin habe er auch noch Psychologie studiert.
Wie stets begannen nach einer Viertelstunde meine Augen zu tränen; die Katzenhaare hafteten in allen Ritzen und machten mir den Aufenthalt bei meiner Freundin unerträglich. Es war zu kühl, um im Garten zu sitzen; ich winkte meinen Kindern zu und fuhr heim.
Reinhard zog zwar die Augenbrauen hoch, als ich ihm den geöffneten Brief übergab, aber er enthielt sich einer Gardinenpredigt über neugierige Ehefrauen. Seine Miene hellte sich beim Lesen zusehends auf. »Wußtest du schon, daß du mit einem Perlenprinzen verheiratet bist?« fragte er.
»Das ist überhaupt nicht witzig«, sagte ich, weil ich seine humorvolle Art in diesem Fall für unangemessen hielt. »Imke ist krank, Lucie ist der gleichen Meinung.«
Anscheinend war das nicht in Reinhards Sinn, er mochte die grenzenlose Anbetung nicht als Wahnsinn interpretieren. »Ein bißchen überspannt ist sie schon; aber denk doch an die jungen Mädchen, die beim Anblick von Elvis Presley in Ohnmacht gefallen sind, was ist schon dabei.«
»Aber andererseits hat sie Abitur gemacht, eine solide Ausbildung genossen und übt jetzt einen Beruf aus - so verrückt kann sie also nicht sein«, wiegelte auch ich ab.
Nach den letzten unangenehmen Wochen wollte ich mich nicht weiter mit Reinhard zanken; ich war auch dankbar, daß sich meine
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