Röslein rot
Rechten zu sehen, hätte sie keine geeignete Mordwaffe gefunden! Durchgeknallt wie sie war, hätte sie sich ja auf mich stürzen können, und dann wäre ich jetzt hinüber!«
Ich schüttelte den Kopf, denn das hielt ich für undenkbar. »Wohin hat man Imke gebracht?« fragte ich.
Die Verletzungen an den Handgelenken seien nicht gravierend gewesen, man habe sie aber trotzdem in die Chirurgie gefahren und hinterher in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Anstalt. Nach Selbstmordversuchen sei das vorgeschrieben. Mitleidheischend spähte er zu mir herüber: »Es war ein einziger Alptraum für mich!«
Bei mir war kein Trost zu holen. Gerd Triebhaber, mein erster Freund, kam mir in den Sinn. Ich erinnerte mich an eine ähnliche Situation, in die ich durch mein freches Mundwerk und die Behauptung, ein vorurteilsfreier, routinierter Betthase zu sein, hineinschlitterte. Gerd war egoistisch und dumm genug, über mich herzufallen. Obwohl wir eine Zeitlang zusammenblieben, war diese Erfahrung verhängnisvoll.
Ich versuche stets, Bilder anzuschauen, die einen diskreten Bezug zu mir haben. Georg Flegels »Vorbereitung zur Mahlzeit« ist so recht dazu geeignet, Pläne für den Küchenzettel zu schmieden. Was könnte man nicht alles aus diesen ganz unterschiedlichen Nahrungsmitteln zubereiten! Im Vordergrund liegt auf einem Zinnteller der stattliche Kopf eines Karpfens neben einem leuchtend roten Krebs, zur damaligen Zeit die Grundlage für eine durchaus leckere Fastenspeise. Das angebissene trockene Brötchen zeugt von Askese, die vier überbackenen Eier in einem Tonpfännchen waren ebenfalls eher für den alltäglichen Tisch gedacht. Im Mittelpunkt prangt als Gegenpol das fettglänzende Fleisch, Sinnbild der Lust und Völlerei. Eine weiß-rosa Kalbskeule, roh und noch mit dem angewachsenen Schwanz versehen, war sicherlich für ein Fest geplant. Um das Fleisch gruppieren sich auf der gleichen irdenen Platte sowohl Früchte der feinen Art wie Zitrone, Orange, Trauben und Melonen als auch Gemüse der bodenständigen Sorte, nämlich Zwiebeln und Rettich.
Links im Bild steht der Wasserkrug, rechts ein Pokal mit Wein. Die eine Hälfte des Lebens besteht aus Verzicht und Leid, die andere aus Lust und Vergnügen, so scheint min Aber die Sinnenfreude wird bedroht - eine Meise pickt an der Melone, eine Fliege legt ihre Eier auf dem rohen Fleisch ab, ein Hirschkäfer überwindet die Barriere des Brotmessers, ein anderer Käfer nähert sich dem Fischteller. Und wofür war der mit Schnecken gefüllte Korb im Hintergrund gedacht?
Die Schnecke ist ein wunderliches Tier. In Augenblicken der Verletzung fühle ich mich ihr verwandt, ziehe meine Fühler ein und sehne mich nach einem Versteck, nach völliger Zurückgezogenheit. Die Schnecke schottet sich ab, vergräbt sich, tarnt sich und wird doch von gierigen Menschen gefunden und verspeist. Schon lange bewundere ich ihre leeren Häuschen und kann nicht umhin, sie aus dem Garten ins Haus zu tragen, sorgfältig zu spülen und auf den Eichensprossen unserer Fenster auszustellen. Die Natur versteht es, Kunstwerke zu schaffen - Vogelnester, Spinnennetze und Muscheln gehören dazu -, die alles in den Schatten stellen, was ich mir an menschlichen Gestaltungsversuchen ausmalen kann. Reinhard wäre nie in der Lage, ein so schönes Haus wie das von Frau Schnecke zu entwerfen.
Es macht mir Spaß, mir anhand des Küchenstillebens ein festliches Menü auszudenken: die Schnecken in Knoblauchbutter als appetitanregende Vorspeise, eine Fischsuppe mit Krebsfleisch und einem Schuß Weißwein als Zwischengang. Schließlich den großen Braten in einer Kräuterkruste mit Zwiebelgemüse, Rettichsalat und frischem Brot. Zum Dessert ein fruchtiger Obstsalat aus Melonen, kandierter Zitronenschale, Trauben und Walnüssen, alles auf Orangensorbet angerichtet. Hätte Georg Flegel bereits die Tomate gekannt und gemalt, würde meine Fischsuppe feiner geraten; andererseits kommt mir, der neurotischen Milchhasserin, das Fehlen eines Sahnekännchens beim imaginären Kochen gerade recht. Doch wieso koche ich in Gedanken Schlemmermahlzeiten und für meine armen Kinder nur Nudeln und Pizza?
Meinen Schmerz über Reinhards Verhalten konnte ich leider nur durch eine wehleidige Miene zum Ausdruck bringen. Er wiederum war unfähig, das Ausmaß meiner Kränkung zu erkennen; immer noch glaubte er, daß meine Distanzierung auf unangemessener Eifersucht basiere. Dagegen konnte ich absolut nicht nachvollziehen, daß mein
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