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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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erklärte mir, daß die irrealen Verliebtheitsträume in der Pubertät ähnliche Funktionen erfüllten, aber bald darauf durch reale Partner ersetzt würden. »Ihr könnt Imke wahrscheinlich kaum helfen«, sagte er abschließend, »da sollte ein Profi bemüht werden. Ein Ende ist sonst nicht abzusehen.«
    Die Katastrophe trat bereits vorher ein. Und zwar nur wenige Tage später, als Reinhard nach dem Abendessen zum Tennisklub fuhr; er spielte regelmäßig mit einem gewissen Dr. Kohlhammer, einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Ob alles stimmte, was mir Reinhard auftischte? Ich konnte ja nicht gut im Klub auftauchen und kontrollieren. Mißtrauisch rief ich die Nummer des Arztes an, um seine Stimme auf dem Anrufbeantworter abzuhören. Als hätte ich Böses geahnt, meldete er sich persönlich in seiner Praxis, war also keineswegs auf den Sportplatz. Ich log ihn an und grübelte. Die Kinder saßen vorm Fernseher. »Ich gehe schnell mal zum Briefkasten«, rief ich ihnen zu und verließ das Haus.
    Ein bißchen frische Luft würde mir guttun. In Reinhards Schreibtischschublade hatte ich den Ersatzschlüssel für sein Büro gefunden. Ich hatte vor, die kurze Strecke zu Fuß zurückzulegen und seiner Arbeitsstätte einen detektivischen Besuch abzustatten. Gülsun putzte nur einmal in der Woche, ich würde ihr nicht über den Weg laufen. Doch was, wenn der vielbeschäftigte Architekt statt Tennis zu spielen am Schreibtisch saß und heimlich arbeitete, um das Geld für eine Spülmaschine zu verdienen? Nun, wenn sein Wagen vor dem Büro stand, konnte ich auf der Stelle wieder umkehren.
    Wenn ich aufrichtig bin, muß ich zugeben, daß ich Imkes Briefe lesen wollte, die Reinhard mir ja weitgehend vorenthalten hatte. Aber auch die Quittung vom Schlemmerlokal war mir suspekt, und mit wem mochte Reinhard den heutigen Abend verbringen? Ich war so aufgeregt wie als kleines Mädchen, wenn ich nachts im Elternhaus allerhand Schabernack trieb. Im Grunde liebte ich dieses prickelnde Gefühl,
    Vor dem besagten Gebäude parkte sowohl Reinhards Auto als auch ein Krankenwagen. Oben im Büro brannte Licht, obwohl es noch hell war. Zögernd blieb ich stehen und ging in einer benachbarten Garageneinfahrt in Deckung, um kurz zu überlegen, ohne vom Fenster aus gesehen zu werden. Sollte ich mich nicht lieber davonstehlen? Wenn mich Reinhard hier entdeckte, wäre dies für ihn ein eklatanter Beweis für meine Eifersucht. Andererseits hatte er behauptet, zum Tennisklub zu fahren; wohl oder übel würde er so lange fortbleiben, wie er es bisher immer tat.
    Plötzlich war mir, als hörte ich einen ganz hohen, dünnen, aber anhaltenden Schrei. Mir gerann das Blut in den Adern. Was bedeutete der Krankenwagen? War Reinhard etwas passiert?
    Dann wurde die Haustür aufgerissen, zwei Sanitäter führten Imke mit behutsamer Anstrengung zwischen sich. Beide Handgelenke des Mädchens waren verbunden. Ein junger Mann in weißen Hosen und Reinhard folgten. »Die Spritze wirkt bereits«, sagte der Arzt, »sie wird bald schlafen.«
    Die Sanitäter verfrachteten Imke in die Ambulanz, der Notarzt stieg ein, und sie fuhren ab. Reinhard sah sich nervös auf der Straße um, in einigen Nachbarhäusern gafften Neugierige aus den Fenstern; eilig zog er sich ins Haus zurück. Ich zögerte keine Sekunde, mich im Schatten der Häuser heimzuschleichen. Es überlief mich eiskalt.

    Kaum hatte ich die Kinder ins Bett gescheucht, als Reinhard nach Hause kam, »'n Abend« brummte und den Fernseher anstellte. Voll falscher Anteilnahme fragte ich: »Wer hat das Match gewonnen?«
    »Keiner«, sagte Reinhard. »Dr. Kohlhammer mußte plötzlich zu einem Notfall - unstillbares Nasenbluten. Man sollte sich keinen Arzt als Tennispartner aussuchen.«
    »Aber woher kommst du jetzt?« fragte ich.
    Mit Reinhards Fassung war es plötzlich vorbei, er brüllte: »Soll das ein Verhör sein?« und warf die Obstschale gegen die Wand. Äpfel, Bananen und Mandarinen kullerten unter das Sofa. »Hättest du mich nicht so provoziert«, schrie er, »dann wäre das nie passiert!«
    Ich bekam alles zu hören. Er sei vom Tennisklub aus ins Büro gefahren, um die gewonnene Zeit zu nutzen und ein paar liegengebliebene Arbeiten zu erledigen, verständlicherweise mit schlechter Laune. Unten am Briefkasten sei er auf Imke gestoßen, die strahlend einen rosa Umschlag in seinen Kasten werfen wollte. »Ich wußte, daß ich dich treffen würde«, habe sie schwärmerisch gesagt. »Meine Ahnungen haben mich noch nie im Stich

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