Röslein rot
irrst du dich«, sagte Lucie. »Zufällig habe ich vorhin mit ihm gesprochen. Er ist mir in der Nördlichen Hauptstraße über den Weg gelaufen.«
Was hatte Reinhard dort zu suchen? Bestimmt keine Baustelle, dachte ich, das wüßte ich schließlich. Mir blieb nichts anderes übrig, als vorläufig zuzusagen und mir eine glaubwürdige Krankheit auszudenken.
Reinhard tat mitunter so, als wäre alles in bester Ordnung. »Lucie hat uns eingeladen«, sagte er beim Abendessen. »Ich habe sie unterwegs getroffen. Sie hat etwas von einer Überraschung für mich angedeutet!«
Das wurde ja immer besser. »Dann viel Vergnügen, aber ohne mich«, sagte ich kurz.
Die Kinder saßen bei uns, stritten um die gerechte Verteilung eines wiedergefundenen Schokoladenhasen und horchten überrascht auf, als sie meinen barschen Ton hörten. Wie auf Verabredung wechselten Reinhard und ich das Thema. »Ich glaube, dieses Jahr werden wir nicht viele Mirabellen ernten«, sagte ich, »sie fallen unreif herunter. Ob der Baum krank ist?«
Natürlich kam ich doch mit. Erstens war ich neugierig, welche Überraschung auf Reinhard wartete, zweitens wollte ich meinen Freundinnen keinen Grund zu Spekulationen geben. Ich erstand sogar im Ausverkauf ein seidenes Sommerkleid, das keineswegs sackartig geschnitten war. Der italienische Stoffdesigner hatte ein extravagantes Muster entworfen: Auf schwarzem Grund prangten, rote, rosa und gelbe Rosen, zarte Knospen wuchsen aus erbsgrünen Kelchblättern hervor. Durch einen Kugelschreiberfleck am Kragen war das teure Modell erschwinglich geworden. Ich versteckte den Fleck unter einer Brosche und kam mir sehr patent vor.
Wir mußten durch Lucies Haus gehen, um in den Garten zu gelangen. Kaum hatten wir den Flur betreten, als mir schon die Katze um die Beine strich; ich empfand es als schlechtes Omen.
Reinhard war noch nie hier gewesen, flüsterte ein heiseres »Guten Abend« und begutachtete sofort mit Kennermiene das Anwesen. Ganz in Gedanken pochte er an die eine und andere Mauer, um festzustellen, ob es tragende Wände seien. Früher hatte ich über solche kleinen Marotten gelacht, jetzt fand ich sein Benehmen unpassend. Ich ließ Gottfried und Lucie mit meinem klopfenden Mann im Flur stehen und stürzte auf die Terrasse. Meine Allergie kam mir gerade recht.
Eine wohltuende Minute lang blieb ich allein in der klaren Abendluft. Der große Tisch im Freien war bereits gedeckt: Zwei, vier, sechs, acht Personen zählte ich verwundert. Lucie hatte sich Mühe gegeben. Quer über das weiße Tischtuch rankten sich Wein und Efeu. Wie in einem Restaurant waren diverse Messer, Gabeln und Löffel um jeden Teller gruppiert.
Aber bevor ich noch alles inspiziert hatte, traten bereits die Gastgeber und Reinhard zu mir. Nicht wie ich, die heimlich Silber und Porzellan herumzudrehen pflegte, sondern in aller Öffentlichkeit untersuchte Reinhard die Pfosten der Pergola. »Alle Achtung, herzgetrenntes Holz!« meinte er anerkennend.
Lucie lachte. »Unser Orthopäde hat erzählt, daß er in jedem menschlichen Rücken ein beginnendes Zervikobrachialsyndrom oder einen drohenden Bandscheibenvorfall wittert. Unser Reinhard kann anscheinend kein Haus betrachten, ohne...«
Ich fiel ihr ins Wort: »Man kann mit ihm keine Viertelstunde durch die eigene oder eine fremde Stadt laufen, ohne daß er nach Bauschäden Ausschau hält. Hat er dann eine herunterhängende Dachrinne entdeckt, erfüllt ihn tiefe Genugtuung. Und wenn man eine malerische Altstadt besichtigen will, dann zieht es ihn unweigerlich in häßliche Vororte. Dort schaut er sich stundenlang die scheußlichen Betonkästen an, die seine ausländischen Kollegen verbrochen haben.«
Bis auf Reinhard lachten alle. »Man muß doch wissen, was die Konkurrenz so macht«, sagte er. »Anne hat leider überhaupt keinen Sinn dafür, daß für mich auch der soziale Wohnungsbau hochinteressant sein kann.«
Der harmoniesüchtige Gottfried beschwichtigte Reinhard, der sich in seiner Berufsehre gekränkt fühlte. »Deine Frau übertreibt wie alle Frauen. Wir wissen schließlich, wie sehr du dich für altes Fachwerk begeistern kannst. Wenn man sich euer hinreißendes Häuschen anschaut, dann sieht man gleich, daß du ein eingefleischter Romantiker bist.«
Inzwischen waren Silvia und Udo eingetroffen, das Thema wurde gewechselt, Küßchen wurden ausgetauscht. »Einfach zauberhaft, eure Terrasse!« rief Silvia und ließ ihren Rechnerblick über die acht Stühle huschen, »und wer ist
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