Röslein rot
»vielleicht spinne ich. Guck mal zu den Kindern hinüber!«
Rüdiger hielt Josts Fuß in der Hand und untersuchte die gut verheilte Wunde. Behutsam strich er über das braune Beinchen und sah Jost mit so großer Zärtlichkeit in die Augen, daß der Junge verlegen wurde und sich losriß.
»Alles klar«, sagte Ellen. »Was machen wir jetzt?«
»Ich werde ihn mit verdorbenen Muscheln vergiften«, schlug ich vor, dampfend vor Wut.
Wie gebannt starrten wir auf Rüdiger, der jetzt in etwa zwanzig Meter Abstand in einer italienischen Zeitung blätterte, während die Kinder den Eisverkäufer belagerten. Das Geld hatten sie nicht von mir.
»Eigentlich brauchst du ihn nicht gleich kaltzustellen«, sagte Ellen nach längerem Schweigen. »Er scheint harmlos zu sein. Nie war er auch nur eine Minute mit den Kindern allein. Das Strandleben spielt sich in aller Öffentlichkeit ab, und die italienischen Mütter lassen ihre Söhne keine Sekunde aus den Augen. Ich lege die Hand dafür ins Feuer, daß er unserem Jost nichts getan hat und nichts tun wird.«
»Woher soll man das wissen?«
Aber sie hatte wahrscheinlich recht. So wie mir das schöne Pärchen eine Augenweide war, so las ich auch in Rüdigers Miene die Freude an meinem hübschen Sohn, gleichzeitig aber auch die Trauer über das absolute Tabu.
Die letzten Tage verbrachten wir in gutem Einvernehmen. Rüdiger bekam zu spüren, daß ich ihn durchschaut hatte, denn ich konnte mir eine diesbezügliche Bemerkung nicht verkneifen: »Wegen meiner schönen Augen sitzt du nicht an unserem Tisch; auch Ellen hat dir nicht das Herz gebrochen, Lara genausowenig. Wer bleibt noch übrig?«
Es war eigenartig, daß Rüdiger diese Demütigung wortlos hinnahm, nichts bestritt oder beschönigte. Später sagte er: »Annerose, wir sind beide unzufrieden, weil wir aus unterschiedlichen Gründen verzichten müssen. Sicher wirst du eher Glück haben, denn ich muß bis ans Ende meiner Tage gegen diese Sehnsucht ankämpfen.« Er sah traurig aus. Äußerlich gaben wir uns den Anschein einer intakten Familie und glaubten es beinahe selbst, als wir am letzten Tag mit allen Einwohnern von Ponte das Fest ihres Schutzheiligen Giovanni Giuseppe feierten. Es gab eine wunderbare Prozession zu Land und zu Wasser und ein abschließendes Feuerwerk. Ich überlegte, was Reinhard dazu sagen würde, daß mein neuer Freund ein platonischer Päderast war. Seit die Fronten geklärt waren, verstand ich mich mit Rüdiger immer besser.
Am letzten Abend machte ich nur mit Ellen einen kleinen Abschiedsspaziergang. Sie fragte neugierig: »Ich habe dich zwar besser kennengelernt, aber eins ist mir nicht klar: Du hast erzählt, daß du vor deiner Ehe mit einer ganzen Reihe von Männern geschlafen hast. Warum tust du dich im Urlaub so schwer damit?«
»Vielleicht hatte ich die vielen Freunde nur, um meine Mutter zu ärgern, denn es hat mir wenig Spaß gemacht. Reinhard war der erste, bei dem die Glocken läuteten. Und zwar auf einem Baugerüst.«
Ellen lachte. »Mädchen, wenn du keinen anderen magst, dann sei doch nett zu deinem Mann!«
»Ja, Mama!« sagte ich.
Je näher das Wiedersehen mit Reinhard rückte, desto unsicherer wurde ich. Nur die Kinder hatten zu Hause angerufen. Ich hatte nie die Initiative ergriffen, weder eine Karte geschrieben noch ein Mitbringsel besorgt. Während er angeblich nur gearbeitet hatte, waren wir verwöhnt worden.
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie gereizt und neidisch Reinhard sein würde. Falls er uns aber in freundlicher Stimmung entgegentreten würde, ließe das auf ein schlechtes Gewissen schließen. Was sollte ich mir eher wünschen? Einen gutgelaunten Betrüger oder einen mürrischen, fleißigen, aber treuen Ehemann?
Als es ans Packen ging, mußte ich eine Unzahl winziger Muscheln, Korallenzweige, Steinchen und getrockneter Seepferdchen in Taschentücher wickeln. Es waren aber nicht die Schätze der Kinder, sondern meine eigene Sammlung: Vorrat für künftige Stilleben. Ich freute mich auf die Zeiten am Küchentisch, die mir ganz allein gehörten. Mir schwebte ein Bild vor, auf dem ich in den abgeteilten Fächern einer leeren Pralinenschachtel alle Meeresfunde versammeln wollte. Zusätzlich boten sich leere Schneckenhäuser, Scherben aus dem Familienbild und getrocknete Blumen als Augenweide an; ein Hühnerknochen, ein Schmetterling, eine blaue Distel kamen ebenfalls in Frage. Ich machte mich voller Tatendrang und guter Ideen auf den Weg nach Hause.
Rüdiger brachte uns
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