Röslein stach - Die Arena-Thriller
getragen, erinnerte sie sich. Wie ein Profi. Wie einer, der das nicht zum ersten Mal macht, ging es Antonia durch den Kopf. Auch dieses Werkzeug… welcher normale Mensch hatte Brechstangen und Bolzenschneider im Auto liegen?
Antonia verspürte Durst. Sie ging nach unten, trank ein Glas Wasser, toastete sich eine Scheibe Brot und setzte Kaffee auf. Elf Uhr. Von Selin war bis jetzt noch nichts zu sehen gewesen. Sie trat auf den Flur, horchte. Kein Laut drang von oben herab. Vielleicht schlief sie sich mal gründlich aus, sie hatte ja die letzten Tage sehr viel durchstehen müssen. Antonia fühlte sich nicht ganz wohl. Lieber wäre sie alleine im Haus gewesen oder zusammen mit Katie, Robert oder Mathe – nur nicht mit dieser rätselhaften Selin. Sie konnte es noch immer nicht benennen, aber irgendetwas an ihr war unheimlich.
Mit der Tasse in der einen und dem Toast in der anderen Hand ging sie in den Garten. Es war ein sonniger Tag, aber nicht zu heiß. Durch das allgegenwärtige Verkehrsrauschen hindurch hörte Antonia Vogelgezwitscher – und Stimmen. Sie kamen aus Richtung des Schuppens. Auf dessen Südseite stand eine wackelige Bank, eingerahmt von zwei Holunderbüschen, und von dort kamen die Laute. Antonia pirschte sich heran. Sie erkannte die Stimme von Selin. »… mir helfen… soll ich denn sonst gehen?«
Sie redete mit Herrn Petri, dem Gärtner. Wegen des Straßenlärms konnte Antonia jedoch nur Wortfetzen von dem hören, was er antwortete.
»… diese jungen Leute mit reinziehen… fair von dir.«
Selins Entgegnung war beim besten Willen nicht zu verstehen, sie sprach zu leise. Petris Bass dagegen war kurz darauf wieder deutlicher. »… das Beste für dich, wenn du zurückgehst.«
Danach drangen nur Teile von Selins Antwort an Antonias Ohr, allerdings redete die nun in gehobener Lautstärke. »… wollen nur… vollstopfen… richtig irre… hasse sie…«
Herr Petri: »… dir helfen… Lösung.«
»Die? Mir helfen?«, kreischte Selin, ehe sie wieder leiser wurde. »… nie mehr… auch nicht!«
So plötzlich, dass Antonia nicht mehr reagieren konnte, kam Selin um die Ecke gefegt. Sie hielt kurz inne, als sie Antonia sah, die noch immer ihr zweites Frühstück in der Hand hielt und ihr Gegenüber erschrocken anstarrte. Antonia fühlte sich ertappt. Ich bin schon wie Katie, dachte sie. Fehlt nur noch, dass ich Mikrofone durch Schornsteine schleuse. Wortlos lief Selin an ihr vorbei, auf den Kücheneingang zu und verschwand im Haus. In einem Comic hätte man jetzt über ihrem Kopf eine Rauchwolke gesehen, dachte Antonia, so wütend hatte sie das Gespräch mit dem Gärtner gemacht. Soviel Antonia aus den erlauschten Bruchstücken schlussfolgern konnte, hatte Petri ihr wohl geraten, zu ihrer Familie zurückzugehen. Wie konnte er das nur von ihr verlangen?
Noch etwas gab Antonia zu denken. Gestern Abend hatten sie zwar beschlossen, Herrn Petri einzuweihen – es war sogar ihr Vorschlag gewesen –, aber wer hatte es eigentlich gemacht? Es musste bereits heute Morgen geschehen sein. Robert? Er war ja sehr engagiert, was Selin anging, bestimmt hatte er gleich bei dessen Eintreffen mit dem Gärtner gesprochen. Gestern Nachmittag war er ja auch sofort losgerannt, um eine Matratze für sie zu organisieren, fiel Antonia mit leisem Groll ein.
Hoffentlich würde Herr Petri Selin nicht verraten. Vielleicht glaubte er, die Bewohner dieses Hauses vor Selins Familie schützen zu müssen. Sie musste unbedingt mit ihm sprechen. Sie lief um den Schuppen herum. Er stand vor der Bank, mit einer Hand auf den Rechen gestützt, und beobachtete eine Amsel, die an einem Regenwurm zerrte. Er wirkte nachdenklich. Antonia räusperte sich.
»Guten Morgen, Antonia«, begrüßte er sie.
»Hallo«, sagte Antonia. »Herr Petri… das Mädchen, das eben im Garten war… wir haben beschlossen, dass wir sie für zwei Wochen hier aufnehmen. Sie muss sich nämlich vor ihrer Familie verstecken, die sie zu einer Ehe mit einem wildfremden Mann zwingen möchte. Bitte, verraten Sie sie nicht! Wir… wir wissen schon, dass das ein bisschen gefährlich ist. Aber man muss ihr doch helfen. Also, wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie zu niemandem was sagen, auch nicht zu unserem Vermieter.«
»Ein bisschen gefährlich«, wiederholte er. »Soso.«
»Na ja, eigentlich nicht wirklich«, meinte Antonia beschwichtigend. »Es weiß ja niemand, dass sie hier ist. Und sie hat versprochen, nicht zu telefonieren oder sonst irgendwie mit der Außenwelt
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