Ro'ha: Teil 2 - Erwachen (German Edition)
zerstört worden waren. Die Erdnahen waren von der Explosion und der enormen Druckwelle vernichtet worden, während alle anderen offenbar den Truppen des Feindes zum Opfer gefallen waren. Die Menschen hatten an diesem Tag einfach alles verloren, doch auch die Xhar hatten schwere Verluste ertragen müssen.
"Es ist nicht einmal ein halbes Jahr her", murmelte Lillja. Hinter ihr konnte sie hören, wie Azarion etwas Metallisches beiseite legte und sich erhob.
"Was meinst du?" Er trat an ihre Seite und sah zu ihr herab.
"Ich habe meine Notizen durchgesehen und versucht, die Tage zusammenzuzählen, die vergangen sind, seit ich die Erde verlassen habe. Ich habe irgendwann aufgehört, in Erdentagen zu denken und ich bin mir nicht ganz sicher, aber es waren weniger als sechs Monate. Vier oder fünf vielleicht." Voller Bitterkeit sah sie auf und fühlte, wie ihr eine Träne über das Gesicht lief. Sie weinte ständig.
"Vor einem halben Jahr war noch alles normal - ich habe mich auf meine Hochzeit gefreut, meinen Abschluss gefeiert. Ich hatte alles…" Sie schluckte schwer und verbarg das Gesicht für einen Moment zwischen den Händen. Alles war verloren. Sie konnte den Blick des jungen Xhar auf sich fühlen und wusste, dass ihm die richtigen Worte fehlten. Sie überforderte ihn mit ihren Emotionen ebenso, wie sie auch die anderen Soldaten überfordert hatte - lediglich Cor schien ihrer Trauer gewachsen, aber vielleicht war das auch nur etwas, das sie gerne glauben wollte.
Das alles war ein einziger Alptraum.
Im Hintergrund öffnete sich die Tür erneut und Lillja erkannte in der Reflexion vor sich Schiffskörperinstandsetzungstechniker Nefaris Tar. Im Vergleich zur massigen Gestalt Azarions wirkte der Techniker geradezu schmächtig, obgleich ihm das Narbengewebe rund um sein rekonstruiertes Auge eine gewisse Verwegenheit verlieh.
"Lillja", begrüßte er sie, nachdem sie sich zu ihm umgewandt hatte. "Sie sehen schrecklich aus." Er machte ein paar Schritte auf sie zu und stieg dabei sehr betont über die am Boden liegende Ausrüstung des Sold aten hinweg. "Wann haben Sie zuletzt Ihr Quartier verlassen?"
Vor einer guten Stunde war sie auf der Toilette gewesen - doch das war es wohl kaum, worauf er hinaus wol lte, also zuckte sie einfach mit den Schultern.
"Stehen Sie auf", verlangte er plötzlich mit Nachdruck und ging im gleichen Atemzug zu ihrem Spind hinüber. "Sie können nicht ewig hier bleiben." Er öffnete die metallene Tür und zu Lilljas Erstaunen griff er nach einer frischen Uniform und einem Satz Wäsche und nur ganz am Rande ihres Bewusstseins war sie ein wenig erstaunt über die Tatsache, dass er so genau zu wissen schien, wo er danach hatte suchen müssen. Irgendjemand musste in den vergangenen Tagen für sie in der Schiffswäscherei gewesen sein, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wer das gewesen sein mochte oder wann das passiert war.
"Sie haben seit Tagen nichts gegessen", fuhr er fort, "und geduscht haben Sie auch nicht."
H'Rega hatte ihr irgendwann eine Ration mitgebracht, die nun vor sich hin schimmelte und einen unangenehmen Geruch verströmte und sie selbst machte wahrscheinlich einen nur bedingt besseren Eindruck.
"Stehen Sie auf", wiederholte Nefaris mit noch deutlicherem Nachdruck und tatsächlich erhob sie sich langsam. Der Techniker ließ ihr den Vortritt und die junge Frau trat hinaus auf den Gang, der die einzelnen Räume des vierten Decks miteinander verband und an Heck und Bug vor je einem Aufzug endete, und wandte sich den Waschräumen zu.
Der Boden des gefliesten Raumes war noch nass, was , gemessen an der Tageszeit, es war nach dreizehn Uhr, wie sie mit einem flüchtigen Blick auf den digitalen Zeitmesser über der Tür feststellte, und der herrschenden Unordnung, auf Kalira deutete.
Nefaris trat nach ihr ein u nd legte sein Bündel auf das Waschbecken, das der Tür am nächsten war, ehe er sich mit einem knappen Nicken verabschiedete und die Tür hinter sich verschloss.
Die Dusche tat gut und Lillja nahm sich ungewöhnlich viel Zeit, legte anschließend sorgsam die Uniform an und trocknete ihr Haar. In ihrem alten Leben hätte sie sich jetzt vielleicht die Augenbrauen gezupft und sich geschminkt, ganz sicher hätte sie ihre Nägel maniküren und lackieren lassen und sich vom Frisör ihres Vertrauens den Haarschnitt verpassen lassen, der gerade im Trend lag. Aber ihr altes Leben war vorbei, ihr Frisör war vermutlich tot, ebenso die Frau vom Nagelstudio.
Weitere Kostenlose Bücher