Roland Hassel - 07 - Wiedergänger
direkt mit dem Mord zu tun hatte, abgekommen war. Wahrscheinlich dachte er an seine acht Kinder und die Gefahren, die ihnen in gar nicht so ferner Zukunft drohen konnten. Ich hatte nur ein Kind zu behüten, aber meine Unruhe war nicht geringer.
»Sind die alten Nazis Hitler und Göring und ihr Anhang vergessen, oder werden sie noch immer verehrt?« fragte Simon.
»Sie werden als Pioniere und große Staatsmänner angesehen, aber die Neonazis haben auch andere Idole. Die im Kampf gegen die Demokratie Gefallenen verehrt man in Gedichten und Liedern, die überall in Europa gelesen und gesungen werden. Sie werden Märtyrer genannt, man
schmückt ihre Gräber mit Blumen. Auch die, die im Gefängnis sitzen, verehrt man als Helden. Sie werden ebenfalls besungen, und wenn sie herauskommen, verehrt man sie wie Nobelpreisträger. Zur Zeit sitzt gerade ein junger schwedischer Neonazi im Gefängnis. Er bekam zehn Jahre für einen vorsätzlichen und ungeheuer brutalen Mord. Aus ganz Europa treffen Geschenke für ihn ein, und in den einschlägigen Zeitungen werden feierliche Gedichte über ihn veröffentlicht.«
»Die haben auch Zeitungen?«
»Ich werde dir welche schicken, damit du einen Eindruck bekommst. Du findest darin massenweise persönliche Angaben und Hetzartikel und Tips, wann Nazi-Rockbands Konzerte veranstalten. In gewissen Blättern, die nur für die eigenen Mitglieder bestimmt sind, werden die Namen und Adressen von mißliebigen Personen abgedruckt, die ›zur Rechenschaft zu ziehen sind‹, das heißt im Klartext, die schikaniert werden sollen.«
»Machen da auch Mädchen mit?«
»Ja, aber sie spielen eine untergeordnete Rolle. Frauen haben sich ausschließlich den traditionellen Aufgaben zu widmen, sie haben zu dienen und sonst nichts. Die Nazis sind unerhört reaktionär. Die Mädchen bekommen nur dann eine Aufgabe, wenn die Männer Propagandamaterial an die Allgemeinheit verkaufen. Dann lungern sie in der Nähe herum und fotografieren die, die sich den Verkäufern entgegenstellen. Anschließend versucht man, diese anhand der Fotos zu identifizieren und unter Druck zu setzen.«
»Was bedeutet ›unter Druck setzen‹?«
»Das ist verschieden. Es gibt die harmloseren Varianten, wie zum Beispiel Waren im Namen des Opfers zu bestellen und anliefern zu lassen oder widerwärtige Fotos zuzuschicken. Telefonterror, natürlich. Juden bekommen Briefe mit Haarsträhnen, die angeblich von Vergasten stammen. Und dann gibt es die schlimmeren Sachen. Ich weiß, daß schon viele Betroffene danach Selbstmord begangen haben. Einer jungen Frau wurde ihr geliebter Pudel gestohlen. Sie bekam ihn dann Stück für Stück mit der Post zurück. Mal eine Pfote, dann ein Auge, dann ein Stück Fell. Ich weiß …«
»Das reicht«, sagte Sandra. »Ich kann es nicht mehr hören. Es ist so widerlich!«
»Was war das für eine Gruppe, in die Karsten sich einschlich?« fragte Simon.
»So wie es verschiedene Bereiche der Hölle gibt, existieren auch verschiedene neonazistische Richtungen und Parteien. Die älteste darunter, die früher schon am meisten von sich reden machte, sammelt um sich die schlimmsten Psychopathen. Das sind so pervertierte Typen, daß nicht einmal ihre ebenfalls auf Gewalt fixierten Blutsbrüder in anderen Parteien ihnen trauen. Derzeit registrieren wir neue Entwicklungen, die den Neonazismus zu einer großen Gefahr für unsere Demokratie werden lassen.«
Er nahm einen anderen Aktenordner zur Hand und blätterte, bis er ein paar handgeschriebene Seiten gefunden hatte. Sandra füllte unsere Gläser nach. Draußen vor den Fenstern zeigte sich der schwedische Frühling von seiner besten Seite. Ausflugsboote glitten auf das Kastell zu, das von den vielen Generationen von Küstenartilleristen Grabo genannt worden war. Wie viele der Soldaten hatten nicht im Laufe der Zeit darüber geklagt, daß es in Vaxholm keine Mädchen gab, wenn sie einmal Ausgang bekamen. Dabei gab es natürlich Mädchen, aber die so langweilig gekleideten Wehrpflichtigen und Reservisten waren eben nicht die attraktivsten Männer auf dem Markt. Heute befindet sich in dem alten Gemäuer ein sehr sehenswertes Museum, das jährlich viele tausend Besucher anzieht.
Ein Idyll. Ein schmuckes Städtchen, ein Museum, tiefblaues Wasser, Boote, Sonne, knospendes Grün, eine Natur, die vor Lebenskraft nur so strotzte, und wir saßen da und sprachen über Gewalt und Blut und Mißhandlung und Tod.
»Die Parteien sind oft einer internationalen Bewegung
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