Roland Hassel - 14 - Piraten
ertönte.
»In Norsborg bei Stockholm teilen sich zwei Brüder eine Wohnung. Beide sind Seeleute und selten gleichzeitig zu Hause. Sie heißen Mark und Johnny Odler. Ich spreche im Präsens, obwohl für beide nunmehr das Präteritum angebrachter wäre. Mark hat eine Leidenschaft, und die heißt Frauen. Eines Abends in London trifft er ein Rasseweib, mit dem er die Nacht verbringt, und er hat zuviel getrunken.«
»Klingt originell«, grunzte ich. »Kommt so etwas wirklich vor?«
»Was er nicht weiß: Sie ist eine Polizistin, die in Scheidung lebt. Ihr Berufsethos erwacht, als sie sieht, daß seine Brieftasche prall mit Geld gefüllt ist. Was sie ihm entlockt, meldet sie weiter, und schließlich landet der Bericht bei uns. Wir finden die Sache hochinteressant. Mark scheint eine Art Kontrollfunktion in einer Gang auszuüben, die mit Schiffen zu tun hat. Die Scheine lassen darauf schließen, daß es um größere kriminelle Geschäfte geht. Wir beschließen, ihn zu beschatten, aber leider wird er bald darauf von einem Lastwagen überfahren und stirbt. Sein Unglück ist auch für uns ein Unglück. In seinem Zimmer in London finden wir Briefe und andere Papiere. Wir nehmen uns seine Wohnung in Stockholm vor und entdecken weiteres Material.«
Ich verzichtete auf dumme Bemerkungen, denn jetzt war ich wirklich neugierig geworden. Wenn Interpol einen Fall übernahm, kamen die besten Experten zum Einsatz.
»Mark hat seinem Bruder oft geschrieben, und dieser deponierte die Briefe, wenn er nach Hause kam, in seinem Schreibtisch. Alle Briefe finden wir nicht, aber Mark prahlt damit, wieviel Geld er nebenbei verdient hat, und wenn Johnny will, kann er ihn ebenfalls an die ›Gesellschaft‹ empfehlen. Er erwähnt ein paar Schiffe, auf denen er gearbeitet hat – alle sind untergegangen. Doch sein Name taucht auf keiner Besatzungsliste auf. Noch Fragen?«
»Gab es Antwortbriefe von Johnny?«
»Einige. Aus ihnen geht hervor, daß Johnny nichts dagegen hatte, empfohlen zu werden. Er hatte es satt, für ein paar Mäuse zu schuften. Einige Bemerkungen in Marks letztem Brief weisen darauf hin, daß er wirklich mit der ›Gesellschaft‹ über Johnny gesprochen hat.«
»Wo ist Johnny jetzt?«
»Dort, wo auch sein Bruder ist. Ich gehe noch einmal auf den Balkon. Schon als Teenager begann ich, Pfeife zu rauchen. Papa lehrte es mich, und Mama kaufte den Tabak. Sie hat mir auch das Pokern beigebracht.«
Hiller saugte an seinem Ersatznuckel und sah so zufrieden aus, daß ich an meine eigenen Erfahrungen mit Tabak erinnert wurde. Ein Genußmittel macht nur dann abhängig, wenn es gleichzeitig stimuliert. Es geht nicht um Moral, sondern um das Überleben. Endlich war er stimuliert genug, in das Zimmer zurückzukehren und den Bericht fortzusetzen.
»Ein phantastischer Zufall kam uns zu Hilfe. Es war nicht schwer, Johnny Odler ausfindig zu machen, da er ganz regulär zur See fährt. Jetzt wird es Zeit, zum Präteritum zu wechseln. Er fuhr auf einem Tanker nach Südamerika. Dort erkrankte er und musterte ab, um sich in einem Krankenhaus auszukurieren. Nach einer Woche glaubte er, wieder gesund zu sein und verließ das Krankenhaus. Offenbar gab es einen Streit zwischen ihm und dem Arzt. Bald darauf verschlechterte sich sein Zustand wieder, und er ging zu einem Quacksalber. Dort starb er an einer Herzattacke.«
»Bei dem Quacksalber?«
»In seinen Armen. Dieser Möchtegern-Mediziner bekam es mit der Angst zu tun, da er eine ganze Menge auf dem Kerbholz hatte. Wegen eines toten Ausländers die Polizei ins Haus zu bekommen, gefiel ihm gar nicht. Deshalb verschwieg er den Sterbefall und verscharrte die Leiche im Garten. Ein paar Wochen später wurde er wegen einer anderen Sache geschnappt. In diesem Zusammenhang gestand er, was er mit Johnny Odler gemacht hatte. Da der Tote Ausländer war, gingen die Papiere automatisch an Interpol, und da wir den Namen zur Fahndung gemeldet hatten, landete die Angelegenheit bei uns.«
Er schaute mich an, und ich schaute zurück. Meinte er wirklich, ich … Er mußte verrückt sein!
»Du kannst dir nicht einmal in deinen wildesten Phantasien eingebildet haben, ich könnte seinen Platz einnehmen!« fauchte ich.
»Dazu braucht man nicht viel Phantasie. Du bist Schwede und etwa in seinem Alter. Nach den wenigen Fotos zu urteilen, die es von ihm gibt, siehst du ihm sogar ein bißchen ähnlich. Die Bande hat ihn mit Sicherheit noch nie gesehen. Außer uns weiß niemand, daß er tot ist, und da Mark nicht mehr
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