Roland Hassel - 14 - Piraten
noch mehr Begriffe einpauken, um ein hundertprozentiger Johnny Odler zu werden. Abende mit Papieren, Fotos, Zeichnungen und Übungen, um die Identität eines anderen Mannes anzunehmen. Tage mit praktischen Prüfungen und Kontrollen, um meine Fortschritte als Seemann und Doppelgänger zu testen. Jeden Morgen ein Telefongespräch mit der Familie, die im Exil lebte und in etwas mehr als einer Woche zurück sein würde. Briefe kamen, die ich ungelesen wegwarf, und Anrufe, die ich ignorierte. Nach unglaublich kurzer Zeit meinte Hiller, daß ich reif wäre, nach Norsborg zu ziehen; jedenfalls so lange, bis Virena und Elin zurückkämen. Alles weitere würde sich ergeben. Ein Job war ein Job war ein Job. Bald würde ich den Kamm einmotten und das Staubtuch bereitlegen. Auf der Oberlippe sproß der Bart.
Ich traf mich mehrmals mit Simon. Die Ermittlungen in meinem Fall kamen in einem Tempo voran, das eine lahme Schildkröte an ein Überholmanöver denken ließ. Ovengren grölte immer noch, es gäbe ausreichende Verdachtsmomente gegen mich und Kusken würde weiter auspacken, aber es blieb bei dem Geschrei. Simon war überzeugt, daß Kusken die Vernehmungsleiter an der Nase herumführte, doch solange man keine anderen Tatverdächtigen hatte, mußte man sich an ihn halten. Das gefiel Kusken, und er betrachtete jedes Verhör als Unterhaltung. Ein paarmal hatte er über den obligatorischen Kaffee, leckeres Gebäck und Zigaretten hinaus gefordert, das Roxyballett möge auftreten.
Hiller und ich wurden mehr als Berufskollegen; wir wurden Kameraden, Freunde. Seine Analysen waren messerscharf, seine Logik imponierend; er war auf eine sehr praktische Art intelligent, indem er handfeste Probleme löste und sich nicht in luftige Theorien verrannte. Er verfügte über eine ungewöhnliche Kombinationsgabe; wie ich verabscheute er die Gier, die Wurzel allen Übels, aus tiefstem Herzen. Seine Brillanz paarte sich mit Selbstironie und einem unverkrampften, niemals verletzenden Humor, so daß in seiner Gegenwart selbst geistig weniger Bemittelte wie ich zu Höhenflügen verleitet wurden.
Das Hauptquartier der Interpol-Gruppe, zu der er gehörte, befand sich in Wien. In wenigen Jahren hatte er perfekt Deutsch gelernt; er redete fließend Englisch und Französisch und beherrschte weitere fünf Sprachen so weit, daß er sich in ihnen mühelos verständigen konnte. Bei einem Essen erzählte er von einem alten Seemann in Helsingborg, der für unseren Auftrag eine große Hilfe war.
»Man bildet sich leicht ein, daß nur die großen Organisationen über Informationen und Möglichkeiten verfügen. Auch die etablierten Politiker glauben ja, daß alle, die nicht zum Establishment gehören, nicht mehr kapieren als dressierte Affen. Doch ohne Walter Nilsson würden wir ganz schön alt aussehen. Durch befreundete Seeleute erhält er Kenntnis von vielem, was durch die weitmaschigen Netze der Behörden rutscht. Sie kennen und vertrauen ihm.«
»Ich habe nie von ihm gehört.«
»Nun ja, er hat sogar Romane geschrieben, aber deine Bibliothek ist vielleicht etwas begrenzt. Sein Leben lang ist er ein Durchreißer gewesen, hat für zwei gearbeitet, ein Kraftmensch. Die See kennt er in- und auswendig, obwohl er auch an Land gearbeitet hat. Von Kindesbeinen an interessierte er sich für Schiffe und ihre Geschichte, notierte sich jedes Fahrzeug, das am Kai anlegte, und recherchierte die Hintergründe. Heute ist er ein lebendes Lexikon über alles, was mit Schiffen und Reedereien zu tun hat. Was er weiß, kann kein Computer speichern. Er studiert alle Register und komplettiert sie mit anderen Angaben. Immer wieder ändern sich Namen und Heimathäfen. Junge, da wird herumgetrickst … und andererseits gibt es so viel Dummheit und Ignoranz, daß man nur staunen könnte, wenn man es sich nicht abgewöhnt hätte.«
Er staunte also nicht, und ich hatte inzwischen so viele Fakten in mich hineingefressen, daß ich beschloß, ebenfalls unbeeindruckt zu bleiben.
»Würdest du als russischer Jungmann es wagen, auf einem schrottreifen Kahn anzuheuern, der ursprünglich nur für Binnengewässer gebaut wurde, und damit über die als gefährlich bekannte offene Ostsee zu schippern? Vor allem, wenn du wüßtest, daß der Seelenverkäufer einer von der Mafia beherrschten Reederei gehört und von einer russischen Gesellschaft klassifiziert worden ist?«
»Mit Hacke und Spaten in Tschernobyl zu arbeiten, klingt sicherer.«
»So ist die Situation, und die russischen Seeleute
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