Rolandsrache
sie ein Stück ab und überlegte, es gleich hier zu essen, doch ein Geräusch ließ sie herumfahren. Der kleine Graf kam herein und strich ihr maunzend um die Beine. Sie hatte vergessen, die Tür zu schließen. Beherzt nahm Anna ihn auf den Arm und setzte ihn in die Diele. In der Küche duldete ihre Mutter keine der Katzen, solange etwas Essbares offen herumstand.
»Wenn du mir gleich nach oben folgst, werde ich dir vielleicht ein Stückchen abgeben.« Damit holte sie ihr Essen und schloss die Tür sorgsam. Besser, sie machte, dass sie wieder auf ihr Zimmer kam, ehe Bertram sie entdeckte.
Nachdem sie auf dem Bett sitzend das Stück Braten vertilgt hatte, leckte sich Anna genüsslich die Finger ab. Sie durfte nur nicht vergessen, den Teller mit hinunterzunehmen, er würde sie sonst verraten. Der Graf und die Gräfin putzten sich vor ihrem Bett. Auch ihnen schien das Mahl geschmeckt zu haben. Anna streichelte die beiden und stand auf. Es wurde Zeit, die Äpfel zu schälen. Plötzlich hörte sie ein dumpfes Geräusch von unten. War es Bertram oder waren die anderen bereits aus der Kirche zurück? Was sollte sie nur mit dem Teller machen! Mutter würde sicher böse werden, wenn sie ihn hier entdeckte.
Vorsichtig schlich sie auf den Flur und lauschte. Die Geräusche waren schleifend und kamen aus dem Innenhof. Sie stellte den Teller auf die kleine Kommode und schlich die Treppe hinunter. Kaum vorstellbar, dass Bertram am Tag des Herrn arbeitete. Das konnte nur Claas sein. Unter ihren Füßen knarrte eine Stufe, und das Geräusch aus dem Innenhof verstummte. Sie ärgerte sich, denn nun war er gewarnt und konnte so tun, als würde er nicht arbeiten.
Als Anna auf den Hof kam, sah sie sofort, dass die Brust des Roland ein wenig anders stand als ein paar Minuten zuvor. Nun schwebte das Wappen beinahe im Freien, und die Brust war ein Stück davon entfernt.
»Claas?«, rief sie. »Du kannst ruhig herauskommen. Ich habe dich längst gehört.« Vermutlich war er in seinem Verschlag. Sollte sie hineinsehen? Nein. Versprochen war versprochen.
»Nun komm schon heraus, sonst muss ich nachsehen und entdecke dein Geheimnis!«
Eine Hand packte Anna von hinten, und eine andere verschloss ihr den Mund.
»Es ist Sonntagmorgen, und du gehst nicht in die Kirche? Was für ein sündiges Mädchen du doch bist.«
Anna gefror das Blut in den Adern. Das war Heinrichs Stimme! Aber er war tot! Panisch begann sie sich zu winden, doch sein Griff verstärkte sich.
»Das wird dir nichts nützen. Diesmal nicht!« Mit brutaler Gewalt zerrte Heinrich sie von den Beinen und schleifte sie in eine Ecke. Dabei löste sich für einen Moment die Hand vor ihrem Mund.
»Bertram!«, schrie Anna.
Hart traf sie Heinrichs Faust im Gesicht, und sie schlug mit dem Kopf gegen den Keil vom Flaschenzug, der das Seil des Wappens hielt. Sterne tanzten vor ihren Augen. Er schlang ihr ein Tuch um den Mund und knebelte sie. Anschließend fesselte er ihr die Hände.
»Noch einmal entkommst du mir nicht.«
Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er war abgemagert, hatte tiefe Ringe unter den Augen und war in Lumpen gehüllt. Mit seinem langen zotteligen Bart im Gesicht hätte sie ihn auf offener Straße sicher nicht wiedererkannt. Hatte Bertram sie gehört? Wo war er? In der Hoffnung, dass er oben auftauchte, sah sie zur Treppe, doch diese blieb leer.
Heinrich folgte ihrem Blick und lachte. »Auf den brauchst du nicht zu warten.« Damit deutete er auf die Küche, setzte sich vor ihr auf einen Steinblock und betrachtete sie.
»Hast wohl gedacht, ich wäre tot, was? Und beinahe hättest du es auch geschafft.« Er zog einen Trinkbeutel aus der Tasche und nahm einem kräftigen Schluck. »Guter Selbstgebrannter von der Insel.« Er hielt ihn kurz hoch. »Ich würde dir ja etwas anbieten, aber du siehst sicher ein, dass es nicht geht.« Er schob den Beutel zurück in seine Tasche. »Ist mein Letzter, aber ich brauche es nicht mehr, wenn ich hiermit …«, er deutete auf die Figur des Roland, »… und mit dir fertig bin.«
Anna schlug das Herz bis zum Hals – er wollte den Roland immer noch vernichten. Dann war all ihre Arbeit umsonst gewesen. All der Kampf. Ihr Vater wäre umsonst gestorben, und ihre Mutter würde vielleicht doch noch im Schuldturm landen. Das durfte nicht geschehen!
»Ich bin gekommen, weil ich dich ebenso leiden sehen will, wie ich es deinetwegen tat.« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Du hättest alles haben können, aber du
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