Rolandsrache
aufwärmen konnte. Von draußen vernahm sie, wie Fuhrwerke durch die Gassen holperten und Marktschreier unermüdlich ihre Waren anpriesen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich die Tür, und ein anderer Geistlicher trat ein. Er war deutlich älter als der Novize, aber er war nicht der Erzbischof.
Anna wollte gerade ihr Anliegen vortragen, als sie sein Gesicht erkannte. Er war erwachsen und reifer geworden, aber die markante Nase und das Kinn würde sie noch erkennen, wenn er ein Greis wäre. »Heinrich?«, fragte sie erstaunt.
Er kam auf sie zu, neigte den Kopf zur Seite, und ein Strahlen trat auf sein Gesicht. »Anna Olde, sag, bist du es wirklich?«
Sie nickte lächelnd. »Verzeihung, ich meine doch Hochwürden.« Verschämt machte sie einen Knicks.
»Aber nein, wenn wir unter uns sind, bleibe ich Heinrich für dich.« Er nahm ihre Hand und zog sie wieder zu sich nach oben.
»Du bist noch im Amt, wie ich sehe. Ich hörte damals, du seiest zu deinem Onkel nach Verden gegangen.«
»Ja, das stimmt auch, doch vor Kurzem hat Gott meinen Weg zurück nach Bremen gelenkt.«
»Ich freue mich, dich wiederzusehen.«
»Wirklich?« Ein flüchtiger Schatten huschte über sein Gesicht. »Aber welches Anliegen bringt dich hierher? Thomas sagte, Anna Zellheyer wünscht eine Audienz bei seiner Exzellenz. Demnach bist du also vermählt.«
Sie seufzte. »Das stimmt leider, und genau aus dem Grund möchte ich ihn auch sprechen.«
»Leider?« Neugierig betrachtete er sie.
Anna senkte verlegen den Kopf. Ausgerechnet ihm ihr Anliegen vortragen zu müssen, war ihr mehr als unangenehm. »Ja. Claas, mein Gemahl, und ich möchten unsere Ehe für ungültig erklären lassen.«
»So? Das musst du mir genauer erklären, aber nun komm erst einmal mit in meine Schreibkammer. Dort reden wir in Ruhe weiter.«
Er nahm sie sanft am Arm und führte sie durch einen Hinterausgang in einen gewaltigen und von hohen Backsteinmauern eingefassten Innenhof. An dessen Stirnseite schmiegte sich ein langes, zweistöckiges Gebäude mit drei Eingängen. Die davor liegenden Gemüse- und Obstgärten waren um diese Jahreszeit kahl und zugefroren, doch man konnte sehen, wie tadellos sie gepflegt waren. Obstbäume wie Sträucher waren an den Stämmen mit Stroh umbunden.
Einige Geistliche waren schweigend damit beschäftigt, Strohbündel auseinanderzuziehen und zu kleinen Haufen zu schichten. Sie achteten nicht auf sie und Heinrich, der den Weg zum rechten Eingang einschlug. Sie betraten eine kleine Vorhalle, in der zwei Kleriker, zuvor leise ins Gespräch vertieft, zu ihnen herübersahen. Sie nickten Heinrich zu, ignorierten Annas Gruß und nahmen unbeteiligt ihre Unterhaltung wieder auf.
Die Glocke von St. Petri schlug zweimal zur Hora Nona, als sie das Schreibzimmer betraten. Es roch nach Holz und Staub. In einem großen Kamin brannten einige Scheite und machten den Raum behaglich warm. Auf dem Kaminsims, dem kleinen Tisch und dem Schreibpult lagen Federkiele und Pergamente mit oder ohne Siegel. Unzählige Talglichter waren im Raum verteilt. Sehr ordentlich war Heinrich nicht, doch er musste mit wichtigen Aufgaben betraut sein, denn eins der Pergamente trug sogar das Siegel des Kaisers. Ein dicker Lederfoliant lag aufgeklappt auf dem Schreibpult. Ein Luxus, den sich nicht viele leisten konnten, denn Bücher kosteten ein kleines Vermögen.
Heinrich bot Anna einen Platz auf einem gepolsterten Stuhl an, setzte sich selbst auf den ungepolsterten hinter dem Tisch und faltete die Hände vor seinem Bauch.
»Du bist sehr zuvorkommend.«
»Ich habe es nicht verlernt.«
»So habe ich es nicht gemeint.« Erinnerungen an ihre letzte Begegnung kamen Anna ins Gedächtnis, und sie schämte sich ein wenig, dass sie ihn damals so barsch abgewiesen hatte. Doch mit knapp vierzehn Jahren war sie nicht bereit gewesen, mit ihm von zu Hause fortzulaufen, um zu heiraten. »Ich glaubte, dass du mir böse warst, nach dem, was damals geschah.«
»Aber nein. Das war eine jugendliche Torheit, nenne es eine Prüfung Gottes, an der ich gereift bin, und dafür bin ich dir sogar dankbar, denn sonst wäre ich nie Priester und jetzt Domdekan geworden. Aber nun erzähle mir, was dich bekümmert. Es ist ungewöhnlich, dass eine Frau die Ehe, die sie vor Gott eingegangen ist …« Er machte eine kurze Pause. »Das bist du doch?«
Anna nickte, worauf er fortfuhr: »Nun, dass eine Frau eine gesegnete Verbindung wieder lösen will.«
Verlegen zupfte sie an ihren Fingernägeln.
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