Rolf Torring 001 - Das Gespenst
geraubt hat." „Hoffentlich treffen wir ihn bald. So, jetzt wirst du dich hinlegen und schlafen, denn wir brauchen morgen unsere Kräfte. Nach 2 Stunden werde ich dich wecken." Gehorsam kroch ich unter meine Decke und war nach wenigen Minuten eingeschlafen. Das hatten wir uns in den Jahren unseres Abenteuerlebens schon angewöhnt, daß wir jeden Augenblick schlafen konnten. Dafür mußten wir auch sehr oft mehrere Nächte hintereinander die Ruhe entbehren.
Ich schreckte sofort empor, als sich eine Hand leise auf meinen Arm legte.
„Vorsicht", flüsterte Rolf an meinem Ohr, „hörst du, daß im Hause irgendwo ein Fenster geöffnet wird?" Obgleich meine Sinne sich nicht mit denen Rolfs vergleichen konnten, waren sie doch durch den jahrelangen Aufenthalt in der Wildnis so geschärft, daß auch mein Ohr jetzt ein ganz feines Klirren vernahm. Es war ein Fensterflügel, der wohl leise geöffnet, aber doch durch eine unvorsichtige Bewegung gegen die Hauswand gestoßen sein mußte. „Es ist drüben an der anderen Seite", flüsterte Rolf weiter, „ich schätze, daß Fu Dan sein Zimmer durch das Fenster verlassen will, weil hier auf dem Flur der Hund liegt, der ihn, ohne anzuschlagen, kaum hinauslassen würde." „Dann wird er uns wohl einen Besuch abstatten wollen", meinte ich nach kurzer Überlegung. „Er wird uns also doch wiedererkannt haben, obwohl uns Lord Abednego bei dem einmaligen Zusammentreffen in seinem Arbeitszimmer dem Chinesen nur sehr flüchtig als durchreisende Bekannte vorgestellt hat."
„So wird es sein, und du kannst daraus ersehen, daß er ein sehr schlechtes Gewissen besitzt. Umsonst hat er auch nicht auf uns geschossen; er wird uns sicher beobachtet und erkannt haben. Nur der Mondschein und das Dunkel unter den Büschen verschuldete wohl den Fehlschuß." Ich hatte mich inzwischen erhoben, und wir schlichen jetzt auf unser Fenster zu.
„Komm, wir wollen es ihm leichter machen und das Fenster ruhig öffnen", flüsterte Rolf, „ich bin neugierig, was er beginnen will."
Mein Freund öffnete unser Fenster so leise, daß es kein Mensch gehört hätte, auch wenn er dicht dabei gestanden hätte. Dann schoben wir vorsichtig unsere Köpfe aus der Fensteröffnung und suchten - ich nach rechts, Rolf nach links -, den erwarteten Chinesen zu erspähen. Leider war es vor unserem Fenster sehr dunkel, denn der Mond warf den Schatten des Hauses bis hinüber zu den dichten Büschen, die an dieser Stelle den Garten begrenzten. Andererseits aber konnten wir auch schwer entdeckt werden, und so hob sich dieses Mißgeschick wieder auf. Jetzt mußten wir uns völlig auf unser Gehör verlassen, und es galt, mit angespanntesten Sinnen zu lauschen, denn sicher würde Fu Dan zum Anschleichen chinesische Schuhe mit dicken Filzsohlen benutzen.
Die Sekunden schlichen dahin. Jeden Augenblick konnten wir einen heimtückischen Angriff des Chinesen erwarten. Mir wäre es, offen gestanden, lieber gewesen, auf einen „Man-eater", einen menschenfressenden Tiger zu lauern, als hier auf einen Menschen, der vielleicht gefährlicher und grausamer als ein Tiger war.
Gott sei Dank fiel das Mondlicht an beiden Seiten des Hauses in breiter Bahn in den Garten hinaus, also war eine Gestalt, die vielleicht vorsichtig um die Ecke schleichen wollte, ohne weiteres zu erkennen. Aber das Unangenehme und Gefährliche war, daß Fu Dan auch in weitem Bogen, gedeckt durch das Gebüsch, in den schützenden Schatten des Hauses schleichen konnte. „Du, das ist mir hier zu unangenehm", flüsterte Rolf, „ich glaube, es ist besser, wir gehen einfach hinaus. Kommt er uns draußen zwischen die Finger, dann wird es für ihn sicher unangenehmer werden."
Und ohne meine Antwort abzuwarten, schwang er sich leise und geschmeidig aus dem Fenster. Mir blieb natürlich nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, und es war mir jetzt im Freien wirklich auch angenehmer zumute. „Krieche du zur rechten Hausecke", raunte Rolf wieder, „dann müssen wir ihn auf jeden Fall sehen, auch wenn er von vorn kommen sollte."
Ich befolgte sofort seinen Rat und legte mich dicht an der rechten Hausecke auf den schmalen Grasstreifen, der meterbreit rings das Gebäude umgab.
Sollte Fu Dan jetzt von der Seite kommen, dann müßte er mit mir zusammentreffen, sollte er von der linken Seite anschleichen, mußte er auf Rolf treffen, kam er von vorn, dann mußte ich ihn gegen den hellen Streifen sehen, den das Mondlicht an der linken Hausecke vorbei in den Garten warf. Und ebenso
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