Rolf Torring 083 - Der rosa Diamant
wirklich nur eine Sekunde vor dem Alten gestanden. Unheimlich! Hatte ich in der kurzen Spanne Zeit die jahrelangen Qualen und Mühen erträumt? Die Wüstenwanderung, die Sklaverei, den Eisenbahnunfall, das Krankenhaus, die Dampferfahrt, den Zusammenstoß im Kanal?
„Ich glaube es," sagte Rolf neben mir mit seltsam belegter Stimme. „Wir haben gesehen, welche Wunder Indien birgt. Aber die Zukunft möchte ich nicht sehen. Mag es kommen, wie mein Schicksal es beschlossen hat!"
„Gut gesprochen, Sahib Torring," sagte der Alte. „Ich habe Ihnen ein Wunder gezeigt. Sie haben in einer kurzen Sekunde die Qualen und Mühen und auch die Freuden von Jahren durchlebt. Ich sehe Ihren Weg vor mir. Er führt durch Gefahren, durch Grauen und nahe am Tode vorbei. Der Bote des Todes steht immer dicht neben Ihnen. Aber die Zeit ist noch nicht gekommen. Sahib Torring, Sie stehen vor einem gefährlichen Abenteuer, in dessen Verlauf Sie gegen starke Mächte zu kämpfen haben. Aber ich sehe, daß Sie Ihr Ziel erreichen. Soll ich weiter sagen, was ich von Sahib Warren sehe?"
„Nein, nein," sagte ich, „ich bin nicht neugierig. Mein Freund hat recht: gegen das Schicksal können wir uns nicht wehren, wenn wir auch vorher wissen sollten, was uns geschieht."
„Dem Geschick entgeht niemand," bestätigte der Alte. „Doch auch Sie werden Ihren Weg vollenden. Ebenso der große Neger, Ihr Begleiter. Gehen Sie weiter! Ich werde meinen Dienern Befehl geben, Sie ungehindert durchzulassen. Sie wären nur nach schweren Kämpfen mit dem Boot weiter hinauf an den Fluß gekommen."
„Ich danke Ihnen," sagte Rolf. „Wir haben es sehr eilig. Darf ich Ihren Namen erfahren? Ich möchte gern wissen, wem ich es zu verdanken habe, daß ich erleben durfte, wie lange eine Sekunde vor dem Erhabenen dauert."
„Mein Name ist Kori. Ich bin weit bekannt. Zu mir kommen die Beladenen, um sich Rat und Trost zu holen. Sahib Torring, ich sehe jetzt ein Bild, das Ihren schwarzen Begleiter betrifft. Wenn er in höchster Gefahr ist, rufen Sie laut meinen Namen! Ich werde helfen."
„Allerherzlichsten Dank nochmals, Kori," sagte Rolf mit ungewöhnlichem Ernst. „Ich werde gern Ihren Namen rufen, wenn Pongo in schwere Gefahr kommen sollte. Jetzt aber müssen wir gehen."
Er trat auf den alten Inder zu und reichte ihm die Hand. Mit seinen lichtlosen Augen blickte Kori meinen Freund lange an, dann murmelte er:
„Sahib Torring, Sie sind ein guter Mensch. Ich sehe es. Meine Augen sind erloschen für die äußeren Bilder. Aber mein Geist sieht alles. Ich schaue nach innen hinein. Sie sprachen von den Wundern Indiens. Alles geht sehr natürlich zu. Rufen Sie mich, wenn Sie jemals wieder in große Gefahr kommen. Haben Sie Vertrauen zu mir, mögen unsere Überzeugungen auch noch so weit voneinander getrennt sein! Ich werde Ihnen stets helfen!"
„Ich glaube Ihnen," sagte Rolf. Dann wandte er sich ab.
Auch ich reichte ihm die Hand. Pongo verneigte sich vor dem Alten.
„Kommt, Hans und Pongo, wir wollen unserer Weg zu Ende gehen!"
4. Kapitel
Pongo in Gefahr
Als wir schon im Gehen begriffen waren, rief der alte Inder uns leise, aber eindringlich nach:
„Ich fühle, daß du treu zu den Sahibs stehst, Pongo. Sei unbesorgt, wenn du bald in schwere Gefahr kommst Ich helfe dir."
Ein beklemmender Druck wich von mir, als wir die Hütte des Inders verlassen hatten. Wenn ich auch schon viele, den Europäern unverständliche Wunder im Sonnenland Indien erlebt hatte, die Sekunde, in der mich Kori jahrelanges Erleben so deutlich fühlen ließ, konnte ich nicht durch eine Handbewegung abtun. Die Kraft Koris ging über eine normale hypnotische Begabung hinaus.
Kori folgte uns. Er stieß einen eigenartigen, schrillen Ruf aus.
„Sie können unbehelligt Ihr Fahrzeug weitertragen:," sagte er, "bis die Krokodile hinter Ihnen liegen, Sahibs."
Wir gingen zu unserem Sampan und nahmen ihn auf. Ein schmaler Pfad führte dicht am Ufer an den Büschen entlang. Fünfzig Meter gingen wir stromauf, dann meinte Rolf:
»Ich glaube, wir können den Sampan wieder ins Wasser setzen. Hier sind nur noch wenig Krokodile."
Durch den Besuch in der Hütte Koris waren wir nur wenige Minuten aufgehalten worden. Aber ich hatte das Gefühl, daß wir eine Erinnerung an Jahre mitnahmen. Beinahe bedauerte ich, daß ich mir von dem alten Seher nicht doch
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