Rolf Torring 084 - Der Geisterzug
Connor"
Connor zog zwei große Bogen aus der Tasche und entfaltete sie, dann sagte er:
„Zunächst der Bericht Harriets. Er lautet — nach einigen Bemerkungen, die etwas anderes betreffen, wörtlich:
Seit fünf Wochen, gleich nach Ihrer Abreise, läuft ein Gerücht unter den Bewohnern der Stadt umher, daß sich ein eigenartiger Reiterzug dreimal am Tage im Süden der Stadt sehen lasse. Der Reiterzug komme aus einer steilen, öden Schlucht, der sogenannten 'Todesschlucht', die von den Indern ängstlich gemieden wird, weil böse Dämonen dort hausen sollen. Ihren Namen hat die Schlucht daher, daß bereits mehrere Reisende und Neugierige, die es wagten, in sie einzudringen, tot aufgefunden wurden. Eine Verletzung konnte an den Toten nicht festgestellt werden.
Morgens, mittags und abends verlasse der Zug in gestrecktem Galopp die Schlucht und bewege sich über die öde Fläche dem Vindhya-Gebirge zu. Als sich das Gerücht immer mehr verdichtete, unternahmen es mehrere Europäer, die das beiliegende Schriftstück unterzeichnet haben, den Spuk aufzuklären. Alle bezeugten das Erscheinen des Reiterzuges, der plötzlich aus der Schlucht hervorstürmte. Einige haben auf die Reiter geschossen. Die Kugeln hatten keine Wirkung. Dagegen habe sich der letzte Reiter umgedreht und den entsetzten Schützen — einen Totenkopf zugewendet.
Sir John Barrington, ich gebe nur die Erklärung der Herren wieder, die das Protokoll unterschrieben haben. Der Inhalt deckt sich mit dem unter den Indern umlaufenden Gerücht.
Die eingeborenen Polizisten weigerten sich standhaft, dem Spuk zu Leibe zu gehen. Fünf unserer Geheimpolizisten haben es ohne mein Wissen Ende der vergangenen Woche unternommen, das Geheimnis des Gespensterzuges aufzuklären. Es sind Frank, Gibson, Dunker, Stone und Margrave. Sie sind seit dieser Zeit verschwunden.
Wir haben die Todesschlucht genau untersucht mußten aber bald kehrtmachen, da einige Leute ohnmächtig wurden, als wir etwa fünfzig Meter tief ein gedrungen waren. Auf dem Grunde der Schlucht können sich Menschen nicht aufhalten.
Ich selbst, Sir John, habe dreimal in der letztem Woche den Geisterzug gesehen. Ich habe auf die Reiter wiederholt geschossen — die letzten drehten sich um: ich sah Totenköpfe.
Selbstverständlich werde ich mich bemühen, bis zu Ihrer Rückkehr die Sache aufzuklären. Ich hielt es aber für nötig, bereits jetzt Meldung zu machen: es wäre immerhin möglich, daß regierungsfeindlich gesinnte Kreise den Spuk inszenieren.
So lautet der Bericht Harriets, meine Herren. Die beiliegende Urkunde, die von mehreren Beamten und Kaufleuten unterschrieben ist, besagt dasselbe. Sehr eigenartig! Das werden Sie zugeben."
Connor faltete die Bogen zusammen und blickte uns an.
„Eigenartig und sicher nicht ungefährlich," meinte Rolf. „Ich darf annehmen, daß die fünf Herren der Geheimpolizei, die verschwunden sind, tüchtige, zuverlässige Beamte waren."
„Unbedingt!" rief der Resident. „Es waren unsere besten Leute! Sie haben das Berufsinteresse stets über alles andere gestellt. Das erkennen Sie daraus, daß sie auf eigene Gefahr versucht haben, den Spuk aufzuklären."
„Im Augenblick läßt sich gar nichts sagen. Erst müssen wir die Todesschlucht und möglichst auch den Geisterzug sehen. Vielleicht hat Harriet recht, wenn er die Frage aufwirft, daß Feinde der Regierung hinter der Sache stehen."
„Sehen Sie, meine Herren," äußerte sich der Resident, „das ist der einzige vernünftige Satz in dem ganzen Bericht. Die indische Aufstandsbewegung wächst von Tag zu Tag. Es ist durchaus möglich, daß regierungsfeindliche Kreise den Humbug veranstalten, um langsam und unbehindert eine Empörung vorzubereiten. Wenn die Inder an Dämonen glauben, wird es gefährlich. Dann sind sie mit einem uns unverständlichen Fanatismus bereit, auch in den sicheren Tod zu gehen, wenn es sein muß. Vielleicht wird wieder Blut fließen wie zur Zeit des Sepoy-Aufstandes. Das müssen wir unter allen Umständen zu verhindern suchen, meine Herren!"
„Wir werden gern alles tun, was in unseren Kräften steht," sagte Rolf. „Natürlich müßten wir alle Unterstützung der Behörden erhalten, vor allem einen Ausweis, auf den hin wir die Hilfe jedes Polizisten verlangen können."
„Das ist selbstverständlich," versprach der Resident. „Sie sollen sogar das Recht haben, jederzeit den Palast des
Weitere Kostenlose Bücher