Rolf Torring 084 - Der Geisterzug
die Lösung des Rätsels schon gefunden zu haben? Das halte ich für übertrieben. Ein Geheimnis, dem die Behörden seit langer Zeit auf die Spur zu kommen suchen, willst du in wenigen Minuten enträtselt haben?"
„Nicht das Geheimnis des Geisterzuges, Hans," sagte Rolf ruhig. „Ich glaube nur, einen plausib len Grund für den Tod der Reisenden gefunden zu haben, die sich in die Todesschlucht wagten. Ebenso dafür, daß Harriet und seine Leute fast ohnmächtig geworden sind, als sie in die Schlucht einzudringen versuchten. "
„Glaubst du, daß die Reiter eine raffinierte Falle gelegt haben?" fragte ich.
„Viel einfacher! Nein, so meinte ich es nicht!" antwortete Rolf. „Komm mit, wir wollen sehen, ob meine Annahme stimmt."
Rolf wandte sich nordwärts, dem Vindhya-Park entgegen. Nach einer kurzen Wegstrecke bog er westlich ab, wieder der Schlucht zu. Die letzten Meter bis zur Schlucht waren schnell zurückgelegt. Wir standen an ihrem Rande.
Fast senkrecht fielen die Felswände ab, so glatt, als ob Menschenhände sie bearbeitet hätten. Ich erinnerte mich nicht, schon einmal auf den vielen Wanderungen durch alle Gegenden der Erde Felswände gesehen zu haben, die von Natur so glatt waren. Da war kein Riss, da gab es keinen Vorsprung.
„Sieht das nicht aus, als wäre die Schlucht von Menschenhand geschaffen, Rolf? Die Felswände sind so glatt, als wären sie behauen."
„Das eben fällt mir auch auf, Hans," gab Rolf zurück. Er sprach ganz leise. „Aber das wäre eine Arbeit gewesen, wie sie nur die alten indischen Fürsten mit dem billigen Menschenmaterial, das ihnen für die Arbeit zur Verfügung stand, hätten ausführen können. Dann aber würde man die Schlucht kennen. Dann wäre sie weltberühmt. Die Schlucht ist dreihundert Meter lang, dreißig Meter breit und zwanzig Meter tief. Wenn Menschen die Schlucht hätten ausheben sollen, wenn Menschen die Wände hätten glätten sollen, müßte Jahrzehnte daran gearbeitet worden sein. Ein solches Werk wäre in der Geschichte von Indore vermerkt."
„Rolf, die asiatischen Völker verstehen zu schwelgen. Denke an den Borobudos, das größte buddhistische Heiligtum auf Java. Als der Islam einzudringen drohte, hat die Bevölkerung Djodjakarats den ganzen Riesenbau mit Erde bedeckt, in ununterbrochener mühevoller Arbeit. Auf dem mächtigen Hügel haben sie Reis gepflanzt. Zweihundert Jahre lang hat das Volk über das vergrabene Heiligtum geschwiegen, bis es durch einen Zufall entdeckt wurde. Wäre es nicht möglich, daß hier ein ähnlicher Fall vorliegen könnte? Vielleicht ist auch hier ein Heiligtum gewesen, das man getarnt hat — und das Volk schweigt immer noch?"
»Unmöglich ist auf dieser Erde nichts, Hans, besonders in Indien. Ich finde nur, daß die Erklärung recht weit herbeigeholt ist. Ich hatte einen anderen Gedanken. Sieh dir mal die Wände ganz genau an! Wie poliert, so glatt. Wenn es sich auch um einen Schiefer handelt, so glatt hätten Menschen die Wände nie schleifen können, vor allem nicht in der riesigen Ausdehnung!"
„Mir fällt etwas anderes ein, Hans! Sieht die Schlucht nicht aus, als wäre sie früher einmal ein See mit Steilwänden gewesen? Vielleicht könnte der Raum auch vor langer Zeit künstlich mit Wasser gefüllt gewesen sein, vielleicht weil Feinde ins Land einzufallen drohten?"
„Du entwickelst dich zu einem Entdecker, Hans! Die Idee halte ich gar nicht für so abwegig, wie es im ersten Augenblick den Anschein haben könnte. Wasser und Sand sind in der Lage, eine solche Arbeit zu leisten. Jetzt fällt mir etwas ein, das meine erste Annahme, die ich dir noch gar nicht entwickelt habe, unterstützen würde. Irgendwo müßte das Wasser ja geblieben sein. Möglich, daß hier eine Naturkatastrophe stattgefunden hat, ein Erdbeben oder etwas Ähnliches. Das könnte die merkwürdigen Erscheinungen hervorgerufen haben. Vielleicht trägt die Schlacht auch deshalb den Namen Todesschlucht, weil damals schon viele Menschen in ihr den Tod gefunden haben."
„Ich bin mir nicht klar darüber, Rolf, was du eigentlich meinst. Du hast heute eine Art, dich geheimnisvoll auszudrücken! Ich glaube, wir gehen bis zum Südeingang und klettern einmal hinab! Dann sehen wir, was los ist!"
„Nein, ich möchte erst etwas anderes versuchen," sagte Rolf, „dann wissen wir gleich, in welcher Hinsicht wir uns in acht nehmen müssen. Bis zum Grunde der Schlucht sind es
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