Rollende Steine
früher.«
»Dafür sind zusätzliche Gebühren fäl ig«, sagte Lady Sara. »Für das
Pferd, meine ich.«
Susanne schwieg. Sie war ziemlich sicher, daß die zusätzlichen Gebüh-
ren bezahlt wurden.
»Außerdem brauchst du Sattel und Zaumzeug.«
Susanne ging darauf ein.
»So etwas brauche ich nicht.«
»Oiuah, Reiten ohne Sattel«, bemerkte Lady Sara. »Und du steuerst mit
Hilfe der Ohren?«
»Die Leute in der Provinz können sich keine Sättel leisten«, warf Kas-
sandra Fuchs ein. »Und die Zwergin sol aufhören, mein Pony anzuse-
hen. Sie sieht mein Pony an!«
»Ich sehe es nur an«, sagte Gloria.
»Du hast dir… die Lippen geleckt«, behauptete Kassandra.
Es trippelte und trappelte auf dem Kopfsteinpflaster. Dann schwang
sich Susanne auf den Rücken des Pferdes.
Sie blickte auf die verblüfften Mädchen hinab und sah dann zur Kop-
pel hinter den Stäl en. Dort standen einige Hindernisse in Form von
Holzstangen auf Tonnen.
Susanne rührte keinen Muskel, doch das weiße Roß drehte sich um,
trabte zur Koppel, lief dem höchsten Hindernis entgegen – Energie bal -
te sich zusammen, und es beschleunigte – und sprang.
Binky kam wieder auf, blieb stehen und tänzelte.
Die Mädchen starrten fassungslos.
»Kann das normal sein?« fragte Jade.
»Was ist denn?« erwiderte Susanne. »Habt ihr noch nie ein Pferd sprin-
gen sehen?«
»Doch, schon.« Gloria sprach so langsam wie jemand, der jeden Au-
genblick damit rechnet, daß der ganze Kosmos in die Brüche geht. »Al-
lerdings… ich meine, in den meisten Fällen kehren die Pferde anschlie-
ßend auf den Boden zurück.«
Susanne sah nach unten.
Binky stand mitten in der Luft.
Welcher Befehl war notwendig, um ein Roß zu veranlassen, den Bo-
denkontakt wiederherzustellen? Wie auch immer er lauten mochte, bis-
her hatten die Reitsportanhänger im Internat derartige Anweisungen
nicht benötigt.
Der Hengst schien Susannes Gedanken zu lesen oder zumindest zu er-
raten. Er trabte nach vorn und nach unten. Die Hufe drangen ins Pflaster ein, als wäre dieses nicht fester als Nebelschwaden. Nach einigen Sekunden stel te Binky fest, in welcher Höhe der Boden begann, und er ent-
schied, darauf zu stehen.
Lady Sara fand als erste die Stimme wieder.
»Davon erzählen wir Frau Anstand, jawohl«, brachte sie hervor.
Unvertraute Furcht regte sich in Susanne und verwirrte sie kurz. Dann
hörte sie die Borniertheit in Lady Saras Stimme, und Zorn brachte sie ins
Reich der Vernunft zurück.
»Ach?« erwiderte sie. »Und was willst du ihr sagen?«
»Du bist mit dem Pferd gesprungen und…« Das Mädchen verstumm-
te, als ihm klar wurde, was folgen mußte.
»Genau«, bestätigte Susanne. »Ich schätze, es ist ziemlich dumm, in der
Luft schwebende Pferde zu sehen, nicht wahr?«
Sie rutschte von Binkys Rücken und bedachte die Zuschauer mit einem
strahlenden Lächeln.
»Es ist gegen die Internatsvorschriften«, sagte Lady Sara.
Susanne rieb den Hengst ab und führte ihn in eine leere Box im Stal .
Im nahen Heuhaufen raschelte es, und Susanne glaubte, aus den Augen-
winkeln elfenbeinweiße Knochen gesehen zu haben.
»Die verflixten Ratten«, sagte Kassandra, bemüht, in die Realität zurückzukehren. »Ich habe gehört, wie Frau Anstand den Gärtner anwies, Gift
auszustreuen.«
»Schade«, murmelte Gloria.
In Lady Sara schien es zu brodeln.
»Das Pferd stand überhaupt nicht mitten in der Luft«, behauptete sie.
»Dazu sind Pferde gar nicht fähig!«
»Dann kann das unmöglich der Fall gewesen sein«, sagte Susanne.
»Auszeit«, meinte Gloria. »Das war’s. Auszeit* wie beim Basketball. Das
muß es gewesen sein.«
»Ja.«
»Mehr steckt nicht dahinter.«
»Nein.«
Das menschliche Bewußtsein zeichnet sich durch erstaunliche Selbst-
heilungskräfte aus. Ähnliches gilt für den Geist von Trollen und Zwer-
gen. Susanne musterte die anderen Schülerinnen verwundert. Sie al e
hatten gesehen, wie das Pferd in der Luft schwebte. Jetzt verstauten sie
diese Erinnerungsbilder in einer kleinen Kammer des Gedächtnisses,
schlossen die Tür ab und warfen den Schlüssel fort.
»Nur aus Interesse…«, sagte sie und spähte wieder zum Heuhaufen.
»Ihr wißt nicht zufäl ig, ob ein Zauberer in der Stadt ist, oder?«
»Ich habe ein Lokal gefunden, in dem wir spielen können!« verkündete
Glod.
»Wo?« fragte Lias.
* Bis zu einem bedauerlichen Zwischenfall mit ihrer Axt war Gloria Kapitänin der Basketballmannschaft des
Weitere Kostenlose Bücher